Kollegiale Führung
Wider die Einsamkeit an der Spitze: Wie eine Unternehmerin im Team führt

Als Geschäftsführerin allein die Entscheidungen treffen? Das passte nicht zu Andrea Gruß’ Vorstellung von Arbeit. Wie die Unternehmerin neue Strukturen schaffte, die zu ihren Werten passen.

28. Juli 2023, 12:21 Uhr, von Leonie Albrecht, Redakteurin

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Andrea Gruß setzt auf kollegiale Führung
Andrea Gruß und ihr Team führen Two4Science heute kollegial. Denn die Unternehmerin will nicht mehr alle Entscheidungen selbst treffen und mehr Zeit haben für das, was ihr Spaß macht: Wissenschaft!
© Stefan Daub für impulse

Zwei Dinge fallen auf, wenn man mit Andrea Gruß spricht: Sie brennt dafür, Menschen naturwissenschaftliche Themen näherzubringen. Und ihr liegt es am Herzen, dass jeder und jede selbst Entscheidungen treffen kann. Doch ihre Arbeit stand lange im Widerspruch zu diesen Überzeugungen: Als Gründerin des Unternehmens Two4Science – einem Dienstleister für naturwissenschaftlich-technische Bildung mit heute 27 Mitarbeitenden – kümmerte sie sich mehr als zehn Jahre um die Geschäftsführung, statt inhaltlich zu arbeiten, und traf Entscheidungen, die ihr Team selbst hätte übernehmen können. Es gibt keinen eindeutigen Punkt, an dem es zu viel wurde, sagt Gruß heute: „Es war ein dauerhaftes Unzufriedensein. Irgendwann wollte ich etwas ändern.“

Wie kam sie dahin? Alles beginnt 2004, als Gruß gemeinsam mit einer Kollegin – wie sie selbst Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin – eine Idee hat: Beide wollen Science Camps organisieren, bei denen Kinder spielerisch mit naturwissenschaftlichen Themen in Kontakt kommen. „Es war gar nicht geplant, dass ich Arbeitgeberin werde. Das hat sich so ergeben“, sagt Gruß. Doch als die Camps Erfolg zeigen und die Nachfrage wächst, gründen sie das Unternehmen. Es wächst schnell.

Während ihre Mitgründerin weiter inhaltlich arbeitet, übernimmt Gruß die unternehmerischen Aufgaben. „Ich habe einen GmbH-Geschäftsführerkurs besucht und die kaufmännische Geschäftsführung übernommen“, sagt Gruß. „Nach und nach ist in mir ein Leidensdruck entstanden, weil ich nur noch diese organisatorischen Dinge gemacht habe.“ Viele strategische Entscheidungen liegen bei ihr – nicht aber inhaltliche Arbeit, obwohl sie daran mehr Spaß hat.

Das Team soll entscheiden

Lange schluckt sie die Unzufriedenheit runter – bis es nicht mehr geht. „Die Verantwortung lastete auf meinen Schultern“, sagt die Unternehmerin. „Manche Mitarbeiter arbeiteten seit Jahren für uns, sie kannten die Kunden und die Projekte. Trotzdem habe ich die Entscheidungen getroffen.“ Für sie ist es ein Widerspruch: Die Selbstverantwortung, die sie sich wünscht, findet sie in ihren Strukturen kaum wieder. „Wir mussten eine Organisation schaffen, in der abgebildet ist, dass alle selbst Entscheidungen treffen können“, sagt Gruß.

2019 entwickelt das Team schließlich ein Konzept, wie es sich neu organisieren will. Die Grundlage bildet das Buch „Das kollegial geführte Unternehmen“ von Bernd Oestereich und Claudia Schröder (Vahlen-Verlag, 2017). Die Idee der Coaches: Führungsarbeit wird dezentral und dynamisch verteilt. „Es übernehmen immer diejenigen die Führung, die für eine Situation die beste Lösung haben“, erklärt Gruß. Zuvor entschieden die beiden Gründerinnen, ob sie sich um eine öffentliche Projektausschreibung bewerben. Heute lösen sie das über Fallentscheide: Drei bis vier Personen melden sich und werden vom Plenum für verantwortlich erklärt. Diese Gruppe entscheidet, ob sie sich um ein Projekt bewerben wollen.

Neue Führung gesucht

Das neue System funktioniert und hat dem Team 2020 geholfen, die Coronakrise zu überstehen: Als die Gründerinnen damit rechnen, dass sie Personen kündigen müssen, weil sie Camps wegen der Pandemie absagen mussten, überlegen alle gemeinsam, wie sich das vermeiden lässt. Einige Teammitglieder reduzieren etwa ihre Arbeitsstunden, eine Person beschließt, noch mal in Elternzeit zu gehen. „Das waren Lösungen, die wir als Chefinnen gar nicht hätten vorschlagen können“, sagt Gruß.

Doch schon Ende 2020 kommt wieder die Sehnsucht, mehr inhaltlich zu arbeiten, als ihre Partnerin das Unternehmen verlässt. „Alleinige Geschäftsführerin und Inhaberin – das wollte ich nie sein“, sagt Gruß. Im Frühjahr 2023 trifft sie eine Entscheidung, die dieses Mal wirklich nur sie fällen kann: Sie wird als Geschäftsführerin zurücktreten. „Ich will weiter Teil des Teams sein, wenn gewünscht auch als Inhaberin“, sagt sie. „Aber ich möchte wieder inhaltlich und wissenschaftlich arbeiten.“ Wer den Job übernimmt, ist noch unklar. Immerhin: Sechs Mitarbeitende haben 2020 einen Geschäftsführerkurs gemacht. Gruß ist optimistisch, dass sie eine gute Lösung finden werden.

„Finanziell bin ich abgesichert, es wäre einfacher, wieder als Journalistin zu arbeiten. Aber es ist ein Herzensthema von mir, das Unternehmen mit dem Team weiterzuführen“, sagt Gruß. Hinter dem Unternehmen steht sie – und sie will Verantwortung übernehmen, aber anders als früher. „Ich will weiter Führung übernehmen, aber weil ich verschiedene Kompetenzen habe – und nicht, weil ich Geschäftsführerin bin.“ Sie weiß, was sie antreibt: „Ich will eine Arbeitswelt, in der die Leute eigenverantwortlich handeln können. Und in unserem Unternehmen kann ich das erzielen.“

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