Toxische Produktivität
Immer im To-do-Modus? 6 Anzeichen für toxische Produktivität

Eine Aufgabe jagt die nächste und bei Leerlauf bekommen Sie ein schlechtes Gewissen: Wann toxische Produktivität Ihren Alltag vergiftet und wie Sie aus dieser Falle herauskommen.

15. September 2024, 05:43 Uhr, von Julia Müller, Redakteurin

Hände, die aus einem vollgestellten Schreibtisch emporsteigen. Mit Stift und Handy in der Hand.
In Aufgaben versinken und trotzdem immer mehr schaffen wollen – ein Anzeichen für toxische Produktivität.
© master1305 / iStock/ Getty Images Plus

Produktiv sein, schnell gute Ergebnisse erzielen, richtig was wegschaffen – das gehört zum Selbstverständnis vieler erfolgreicher Menschen. Doch was ist, wenn das Abarbeiten von immer mehr Aufgaben zum Lebensinhalt wird? Für dieses Verhalten hat sich ein Begriff etabliert: toxische Produktivität. Was steckt dahinter? Und wie lässt sich erkennen, ob das eigene Verhältnis zu Produktivität noch gesund ist?

Was ist toxische Produktivität?

„Toxische Produktivität ist kein klinischer Begriff. Aber er beschreibt ein Zeitgeist-Phänomen, das viele von uns kennen“, erklärt Eva Elisa Schneider, Psychologin und Expertin für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz. Nämlich den Drang, jede kleinste Lücke im Kalender mit Aufgaben zu füllen.

Wer ein toxisches Verhältnis zu Produktivität hat, ist nicht nur bei der Arbeit, sondern auch im Privatleben komplett durchgetaktet. Zum Abschalten bleibt keine Zeit. „Man ist quasi immer in einem To-do-Modus“, so Schneider.

Toxische Produktivität erkennen: Das sind typische Anzeichen

Wie sieht toxische Produktivität aus? Die Psychologin nennt sechs typische Anzeichen, die auf eine problematische Einstellung zur eigenen Leistungsfähigkeit hindeuten können:

1. Keine Toleranz für Abweichungen

Die Bahn fällt aus, das Fahrrad hat einen Platten, der Rechner stürzt ab: Wie gehen Sie mit solchen unvorhergesehenen Unterbrechungen um? Wer dann extrem frustriert ist, wütend wird oder in Tränen ausbricht, hat womöglich einen Hang zu toxischer Produktivität. „Wenn man jede Minute seines Tages akribisch durchplant, ist für Abweichungen gar kein Raum mehr“, erklärt die Psychologin. Zu merken, dass die eigenen Pläne durchkreuzt werden, könne dann zu großer Unzufriedenheit oder sogar zu Ängsten führen.

2. Zwanghaft freie Zeit ausfüllen

Künstliche Intelligenz, digitale Tools oder Methoden zum produktiven Arbeiten wie der Pomodoro-Technik können helfen, Aufgaben schneller zu erledigen. Doch wie nutzen Sie die so gesparte Zeit? Eva Elisa Schneider beobachtet, dass Freiräume oft mit noch mehr To-dos vollgestopft werden: „Die Menschen halten nicht kurzfristig inne und überlegen, was sie eigentlich mit der gewonnenen Zeit anfangen möchten.“

3. Keine echten Pausen

15 Minuten Mittagspause – und Sie schreiben fünf WhatsApp-Nachrichten und scrollen durch Onlineshops? Wer unter toxischer Produktivität leidet, ist nicht mehr in der Lage, eine erholsame Pause zu machen.

4. Minutiös durchgeplantes Privatleben

Von 19 bis 20 Uhr Sport, dann fünf Minuten duschen, um 20:15 Treffen mit einer Freundin oder nochmal an den Schreibtisch – sehen Ihre Abende so aus? „Es kann schnell passieren, dass man auch nach Feierabend das meiste aus seiner Zeit herausholen will und sich hart durchtaktet“, so Eva Elisa Schneider. So gerate das ganze Leben zu einer nie enden wollenden To-do-Liste.

5. Härte gegenüber sich selbst

Jeder Mensch hat eine Tagesform. Mal sind wir besonders leistungsfähig, an anderen Tagen hängen wir durch. Doch wer ein ungesundes Verhältnis zu Produktivität entwickelt hat, erlaubt sich solche Durchhänger nicht. „Die Menschen denken dann, dass sie jeden Tag 150-prozentig abliefern müssen“, sagt die Psychologin. Gelingt das einmal nicht, sei die Unzufriedenheit mit sich selbst groß.

6. Ausgeprägter innerer Kritiker

Sie bleiben morgens ausnahmsweise mal zehn Minuten länger liegen oder verbringen einen Sonntagnachmittag auf dem Sofa – und schon meldet sich Ihr innerer Kritiker? Da ist diese fiese Stimme im Kopf, die Ihnen einflüstert: „Gib mal Gas, das kannst du dir nicht erlauben!“ Oder: „Warum hängst du hier so rum? Du wolltest doch eigentlich schon längst mit der Steuererklärung anfangen?“ Echte Entspannung ist so nicht möglich.

Welche Folgen hat toxische Produktivität?

Der Drang nach grenzenloser Produktivität kann Psychologin Schneider zufolge Betroffenen auf mehreren Ebenen schaden. Zum einen leide die Konzentration, wenn man niemals Pause mache und zur Ruhe komme. Statt innezuhalten, würden Betroffene dann versuchen, noch härter zu arbeiten, was einen Teufelskreis in Gang setze.

„Einige Menschen entwickeln auch Schuldgefühle und Scham, weil sie glauben, nie genug zu schaffen“. Auch können sie vermeintlich unproduktive Zeit mit anderen Menschen nur schwer aushalten. Das könne zu zwischenmenschlichen Konflikten mit Freunden oder der Familie führen.

Außerdem könne der Körper auf die andauernde Belastung reagieren, etwa in Form von Schlafstörungen, Verspannungen, Kopf-, Rücken- und Nackenschmerzen sowie ausgeprägten Erschöpfungsgefühlen. Diese Alarmsignale könnten auch erste Anzeichen für einen Burnout sein, so die Expertin.

Wer ist besonders anfällig für toxische Produktivität?

Sehr leistungsorientierte Menschen, die hohe Ansprüche an sich selbst haben und perfektionistisch veranlagt sind, neigen laut der Expertin eher zu einem Leben im To-do-Modus.

Das Phänomen der toxischen Produktivität könne in allen Berufsgruppen auftreten. Eva Elisa Schneider beobachtet es zum einen häufig bei Berufseinsteigern, die noch keine Erfahrung darin hätten, ihre Arbeitstage in einem gesunden Maß zu strukturieren. Zum anderen seien Führungskräfte und Unternehmerinnen und Unternehmer besonders betroffen. „Sie haben viel Verantwortung, unterliegen häufig einem hohen Druck und müssen den ganzen Tag priorisieren.“ Da sei der Wunsch, permanent produktiv zu sein, besonders hoch.

„Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Höher, schneller, weiter – diese Maxime bestimmt unsere Arbeitswelt“, sagt die Psychologin. Zu solchen äußeren Faktoren, die ein ungesundes Verhältnis zu Produktivität begünstigen können, kommen häufig noch innere Faktoren, etwa bestimmte Glaubenssätze, die eine Person in sich trägt: „Ich muss mich anstrengen“ oder „Ich bin nicht gut genug“.

Trifft jemand, der diese hohen Ansprüche an sich selbst hat, auf eine Arbeitsumgebung, in der permanent Höchstleistungen gefordert werden, könne das laut Eva Elisa Schneider eine gefährliche Mischung ergeben.

Toxische Produktivität überwinden: Was hilft?

„Ab morgen mache ich jeden Tag eine Stunde Mittagspause, gehe spazieren und lasse meine Gedanken schweifen“ – solche Vorhaben sind laut der Expertin in der Regel zu groß gedacht und zum Scheitern verurteilt: „Wer über Jahre oder sogar oder Jahrzehnte jede Minute mit Produktivität gefüllt hat, bekommt so einen krassen Wechsel nicht hin.“ Sie empfiehlt, mit kleinen Schritten anzufangen:

Regelmäßig Pausen einplanen

Fangen Sie mit kurzen Pausen an: zwei Minuten die Arbeit unterbrechen, aufstehen, das Fenster öffnen und sich einmal strecken. Nach einiger Zeit steigern Sie die Pause auf fünf Minuten. Und dann machen Sie irgendwann 20 Minuten Mittagspause und legen währenddessen Ihr Handy weg. Denn nur, wenn man nicht nebenbei noch WhatsApp schreibe oder im Internet scrolle, mache man eine echte Pause. „Vielleicht werden dann erst einmal die alten Gedankenmuster aktiviert und Sie denken ‚Ich sollte doch eigentlich etwas erledigen, jetzt habe ich 20 Minuten verschwendet‘“, erklärt Schneider. Unproduktive Pausen zu machen, müsse man üben. „Machen Sie sich klar, dass diese 20 Minuten eine Zeit sind, die Sie in sich selbst investieren.“

Gute Selbstfürsorge

Wer vor lauter To-dos kaum Zeit zum Durchatmen hat, muss oft erst einmal Selbstfürsorge lernen. Achten Sie darauf, genug zu schlafen, sich regelmäßig zu bewegen, gesünder zu essen und sich mit Menschen zu umgeben, die Ihnen guttun.

Auch Achtsamkeitsübungen können laut der Psychologin helfen, sich selbst liebevoller zu begegnen – und sich nicht zu zerfleischen, wenn man nicht alles erledigt hat, was man sich vorgenommen hatte. Eine kleine Übung, die sich leicht im Alltag umsetzen lässt, ist etwa die Blitzlicht-Methode. Durch das kurze Innehalten lernen Sie, Ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und sich selbst besser zu verstehen.

Spaß haben

Fragen Sie sich: Bei welcher Tätigkeit spielen Leistung und Produktivität keine Rolle? Vielleicht haben Sie Lust, eine Runde Playstation zu zocken? Oder Sie kramen Ihre alte Gitarre hervor, malen ein Bild oder puzzeln. „Es geht darum, das Kind in sich zu wecken“, sagt Eva Elisa Schneider.

In der Corona-Pandemie, als vielen plötzlich sehr viel unverplante Zeit zur Verfügung stand, hätten sich Menschen auf solche Tätigkeiten besonnen – und oft erlebt, dass sie ihnen Freude bereiten. „Versuchen Sie, das Muster zu durchbrechen, dass Sie mit jeder Tätigkeit ein bestimmtes Ziel verfolgen müssen“, rät die Psychologin. Sie dürfen Dinge tun, die einfach nur Spaß machen – und durch die Sie nicht zwangsläufig fitter, klüger oder erfolgreicher werden.

Die Expertin
Dr. Eva Elisa Schneider ist Psychologin, Psychotherapeutin und Expertin für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz. Sie war selbst Führungskraft und arbeitet jetzt als Speakerin und Trainerin mit internationalen Unternehmen zusammen. Sie ist Host des Podcasts „Gesund arbeiten“. Im Oktober erscheint ihr Buch „Mental Health matters – Gesund arbeiten, besser leben“ (Haufe, 200 Seiten, 22 Euro).
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