Süchtig nach Arbeit
„Manche brauchen die Arbeit wie Alkoholiker den Alkohol“

Viele Unternehmerinnen und Unternehmer können einfach nicht aufhören zu arbeiten. Wirtschaftspsychologin Ute Rademacher erklärt, wann Arbeiten abhängig macht – und was Betroffene tun können.

2. März 2023, 07:45 Uhr, von Kathrin Halfwassen, Redakteurin

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Süchtig nach Arbeit
© Carol Yepes/Moment/gettyimages

impulse: Frau Rademacher, Sie forschen unter anderem zur Arbeitssucht. Was sagen Sie zu den vielen Unternehmerinnen und Unternehmern, die mikromanagen, sich also ins Tagesgeschäft einmischen, Mitarbeitende kontrollieren und dadurch extrem viel arbeiten – sind diese Menschen alle arbeitssüchtig?

Nein. Entsprechende Verhaltensweisen können Arbeitssucht aber befördern – oder ein Symptom bestehender Arbeitssucht sein. Etwa die Verhaltensweise, aus einem Perfektionismus heraus alles selber machen zu wollen statt zu delegieren. Entscheidend ist die Frage: Hat eine Person ein Problem damit, wenn sie nicht arbeitet?

Lautet die Antwort Ja …

… dann ist die Person wahrscheinlich arbeitssüchtig. Typische Anzeichen sind: Jemand organisiert den Alltag um die Arbeit herum, vernachlässigt Freunde, Familie, Hobbys. Checkt auch an freien Tagen Mails, arbeitet krank – und mitunter heimlich. Arbeitssüchtige brauchen die Arbeit wie Alkoholiker den Alkohol.

Ein krasser Vergleich.

Ja. Aber er trifft. Die meisten von uns trinken etwa auf Festen mal ein Glas Wein oder auch eins mehr – haben aber kein Problem, wenn sie keinen Alkohol bekommen. Genauso arbeiten die meisten Chefs und Chefinnen immer wieder mal extrem viel, etwa wenn, wie zurzeit, gleich mehrere Krisen herrschen. Aber sie sind froh, wenn die harte Phase vorbei ist. Arbeitssüchtige dagegen fühlen sich ohne Arbeit wertlos, unzufrieden, innerlich leer. Sie vermissen den „Kick“.

Den Kick?

Ähnlich wie bei psychoaktiven Substanzen kann Arbeiten eine Art High auslösen – etwa, wenn wir eine fast unmögliche Deadline doch noch einhalten. Das Problem: Wer diesen Kick braucht, muss immer mehr arbeiten und Grenzen immer weiter verschieben, um ihn zu spüren.

Wie viele Menschen sind von Arbeitssucht betroffen?

Schätzungen zufolge ist es jeder Hundertste.

Sind Unternehmerinnen und Unternehmer besonders gefährdet?

Sie arbeiten zumindest unter Rahmenbedingungen, die eine Sucht unter Umständen befördern: Sie können ihre Tätigkeit inhaltlich selbst gestalten, die Grenzen zwischen beruflichem und persönlichem Engagement verschwimmen oft. Dazu fehlt bei Unternehmerinnen und Unternehmern eine Kontrollinstanz, die sagen könnte: „Du gehst jetzt heim!“

Besonders gefährdet sind darüber hinaus Menschen, die perfektionistisch sind – und eine übersteigerte Verausgabungsneigung aufweisen.

Was ist das?

Die grundsätzliche Neigung, über die eigenen Grenzen zu gehen. Dieses Persönlichkeitsmerkmal ist eine Mischung aus genetischer Vorprägung und erlernten Verhaltensmustern – etwa bei Menschen, die aus einer Familie stammen, in der die Eltern ständig gearbeitet und die Kinder gelernt haben, Anerkennung durch Leistung verdienen zu müssen.

Zur Person
Ute Rademacher ist Business Coach, Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Emden/Leer und Autorin des Buches „Arbeitssucht. Workaholismus erkennen und verhindern“ (Springer Gabler, 14,99 Euro)

Viele Chefs und Chefinnen glauben, nicht weniger arbeiten zu können, weil sonst die Hütte brennt …

Aber warum brennt sie denn? Das liegt dann auch am Management – denn es sind ja auch Unternehmen erfolgreich, die von Nicht-Arbeitssüchtigen geleitet werden und in denen Führungskräfte kein Mikromanagement betreiben.

Wie gefährlich ist Arbeitssucht?

Betroffene haben ein höheres Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, Erschöpfung, Depressionen, Magengeschwüre und chronische Kopfschmerzen. Auch leidet die Familie meist enorm. Und: Arbeitssüchtige verletzen häufiger die Fürsorgepflicht im Hinblick auf ihr Team.

Wie das?

Chefs und Chefinnen prägen als Vorbild die Unternehmenskultur. Wenn sie ständig bis in die Nacht arbeiten, sich keine Ruhephasen gönnen und nicht auf ihre Gesundheit achten, werden ihre Beschäftigten nur schwer regelmäßig pünktlich Schluss machen und auf Pausen beharren. So steigt das Risiko für Arbeitssucht auch in der Belegschaft – mit allen negativen Folgen für den Einzelnen.

Arbeitssucht ist auch betriebswirtschaftlich ungünstig: Betroffene sind aufgrund ständiger Überbelastung irgendwann unkonzentrierter, machen mehr Fehler, das Leistungsniveau sinkt.

Was kann ich tun, wenn ich mich als arbeitssüchtig erkenne?

Diese Einsicht wirklich zu haben, ist der erste entscheidende Schritt zur Besserung. Dann müssen Sie Routinen aufbauen, die nichts mit Arbeit zu tun haben – etwa öfter Freunde treffen, Pausen einlegen, einen Kurs für autogenes Training belegen. Und zwar auch dann, wenn ihnen all das anfangs nicht unbedingt Freude bereiten wird. Auch wichtig: Lassen Sie sich begleiten.

Wer kann denn helfen?

Freunde, Familienangehörige. Oder Mitglieder einer Selbsthilfegruppe: Es gibt inzwischen Meetings der Anonymen Arbeitssüchtigen analog zu den Anonymen Alkoholikern. Professionell können Coaches helfen – sie sollten aber einen psychologischen Hintergrund haben.

Und wann ist Psychotherapie angeraten?

Wenn Sie in unterschiedlichen Jobs und Arbeitssituationen immer wieder Verhalten und Denkmuster zeigen, die zur Arbeitssucht führen. Dann liegt ein tieferes Problem dahinter, das psychotherapeutisch behandelt werden sollte.

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