Umgang mit psychisch Erkrankten
Wie Sie psychische Krankheiten behutsam ansprechen

Mit einem Teammitglied über eine psychische Erkrankung zu sprechen, kann schwierig sein. Unternehmer Johannes Baier hat dafür seine ganz eigene Taktik entwickelt. Wie die aussieht und was andere davon lernen können. Plus: Ein Spickzettel, der auch Ihnen das Gespräch erleichtert.

7. Oktober 2021, 14:50 Uhr, von Lisa Büntemeyer, Chefin vom Dienst Digital

Umgang mit psychisch Erkrankten
© knallgrün/Photocase

Dass es kein Patentrezept im Umgang mit psychischen Erkrankungen gibt, musste Johannes Baier in der eigenen Familie erfahren: „Mein Großvater hatte eine psychische Krankheit, das Thema wurde aber tabuisiert, da sprach man nicht drüber“, erinnert sich der Geschäftsführer des Baufachzentrums Lueb und Wolters in Borken bei Münster.

Bei seiner Frau – Gesellschafterin des Familienunternehmens – ist es anders: Ihre Verwandten sprechen innerhalb der Familie offen über psychische Erkrankungen. Beide Seiten zu erleben, das Tabu und den offenen Umgang, war für Baier augenöffnend: „Ich habe gemerkt, wenn alle darüber reden, ist es auch nicht immer des Rätsels Lösung.“ Die Krankheit bleibe. „Das hat mir gezeigt, dass es keinen Masterplan gibt, keinen allgemeingültigen Leitfaden für solche Gespräche. Das ist ganz individuell.“

Seine persönlichen Erfahrungen helfen

Als Führungskraft muss man zunächst verstehen, dass zum Beispiel eine Depression eine richtige Krankheit ist, sagt Psychiater Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. „Wenn man sich nie damit auseinandergesetzt hat, ist man unsicher, weiß nicht, was man empfehlen soll oder ob man Schaden anrichten kann“, so der Experte.

Baiers persönliche Erfahrungen helfen ihm daher heute als Chef von 143 Mitarbeitern – denn für ihn gehört es zur Aufgabe eines Arbeitgebers, sich mit psychischen Krankheiten zu beschäftigen, um im Ernstfall reagieren und unterstützen zu können.

Oft mit Stigma verbunden

Der Geschäftsführer hat nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Firma immer wieder erlebt, dass Menschen psychisch erkrankten. Seiner Erfahrung nach scheuen sich viele Menschen davor, über ihre psychische Erkrankung zu sprechen, weil sie mit einem Stigma verbunden sei: „Sie denken, alle reden dann über sie. Dass sie quasi als die Verrückten dastehen.“

Er achtet daher auf typische Anzeichen: Kolleginnen oder Kollegen ziehen sich zurück, wirken antriebslos oder übermüdet – oder aber jemand erzählt, dass es ihm gut geht, seine Körpersprache sagt aber etwas anderes aus.

Anzeichen ansprechen

Eine Feststellung ist Baier wichtig: „Nicht hinter jeder Aussage oder Auffälligkeit steckt gleich eine psychische Störung, da muss man vorsichtig sein.“ Häufig haben Mitarbeiter einfach vorübergehende Tiefs. „Doch die Summe aller Anzeichen ergibt irgendwann ein Gesamtbild. Und da muss man sich als Führungskraft einfach trauen und das Thema ansprechen.“ Wie Baier solche Gespräche führt, ist von Person zu Person verschieden. Einen Spickzettel, der Ihnen das Gespräch erleichtert, finden Sie hier.

In der Regel sagt er zunächst, dass ihm bestimmte Veränderungen aufgefallen seien, fragt, wie es dem Gegenüber geht. Doch das hilft nicht immer: „Häufig blocken die Mitarbeiter erst mal ab, lassen sich irgendwas einfallen, warum das gerade eine Ausnahme ist.“ In solchen Fällen müsse er akzeptieren und respektieren, dass sie nicht darüber sprechen wollen. „Meine Erfahrung zeigt: Wenn diejenigen sich nicht öffnen, kann ich nichts machen. Wenn etwa jemand Bulimie hat und man fünfmal sagt, dass er gar nicht dick sei, sagt der ja nicht irgendwann: ‚Stimmt, gut, dass du es sagst. Dann höre ich jetzt auf damit.‘“

Dranbleiben und das Gespräch suchen

Es kann natürlich vorkommen, dass jemand wirklich nur vorübergehenden Stress hat, etwa schlecht schläft wegen eines Umzugs, sagt die Psychologin Sonja Höhn. „Ob mehr dahintersteckt, kann ich oft erst später weiter eingrenzen. Wenn etwa der Umzug länger her ist und es demjenigen immer schlechter geht.“ Wichtig ist, laut der Psychologin, dranzubleiben und wiederholt das Gespräch zu suchen: „Zu sagen, wenn der sich nicht öffnet, dann ist das nicht mein Problem, wäre ein Fehler.“

Baier versucht daher, seinen Mitarbeitern zu vermitteln, dass sie sich an ihn oder ihre Führungskraft wenden können. Er sagt dann beispielsweise: „Ich kann nicht sehen, was dich bedrückt. Aber da ist etwas, und ich möchte dir helfen, es gibt Lösungen.“ Manchmal ist es für die Erkrankten einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch. Doch würden einige sich später melden – wenn sie an einen Punkt kommen, an dem sie richtig kaputt sind und einsehen, dass sie Hilfe brauchen.

Von eigenen Krisen erzählen

Mauern Mitarbeiter, erzählt Baier manchmal von einem eigenen psychischen Tiefpunkt: Vor einigen Jahren starb ein enges Familienmitglied durch einen Unfall. Damit, erzählt er, wurde er ohne Hilfe nicht fertig. Seine Frau empfahl ihm eine Psychologin. „Ich weiß noch, wie ich aus der ersten Sitzung rauskam und es sich anfühlte, als hätte jemand einen schweren Rucksack von meinen Schultern genommen“, erinnert sich der Unternehmer. „Das hat sehr gutgetan. Von dieser Erfahrung habe ich einem Mitarbeiter erzählt, dem es offensichtlich schlecht ging, der aber der Meinung war, über so etwas rede man nicht. Der war wie vom Blitz getroffen, dass ich so offen darüber spreche. Er dachte, wenn man so etwas erzählt, sei man quasi verbrannt, andere würden den Respekt vor einem verlieren.“

Besagter Angestellter arbeitet heute immer noch im Unternehmen, das Gespräch damals habe geholfen, so Baier: „Wenn man erst einmal einen Schritt auf jemanden zugeht, öffnet der sich oft, denn ihm wird bewusst, dass es weitergeht. Dass man Hilfe finden kann.“

Wichtig ist für den Geschäftsführer, dass man als Chef nicht selbst diese Hilfe bietet, sondern auf Experten wie Psychiater oder Therapeuten verweist. Dass er im privaten Umfeld schon mit psychischen Erkrankungen zu tun und selbst mit Trauer und mentalen Problemen zu kämpfen hatte, qualifiziere ihn nicht zum Fachmann.

Nicht immer gibt es eine Lösung

Doch nicht immer findet Baier einen Weg, mit einem erkrankten Mitarbeiter ins Gespräch zu kommen und gemeinsam Lösungen zu finden. Als die Firma vor einiger Zeit einen Veränderungsprozess startete, hatte eine psychisch erkrankte Person große Probleme, sich anzupassen. „Wir haben es mit dem Integrationsfachdienst versucht, mit einem persönlichen Betreuer, Coaching. Einen riesigen Aufwand haben wir betrieben – doch die Person kam mit den Veränderungen nicht zurecht, war nicht mehr arbeitsfähig.“ Sosehr ihm das menschlich leidtat, sei doch irgendwann der Punkt gekommen, an dem er sagen musste: „Das können wir nicht mehr gewährleisten. Wir haben alles versucht, wir müssen uns jetzt trennen.“

Beide Seiten einigten sich schließlich auf einen Aufhebungsvertrag. „Das war wirklich dramatisch. Rückblickend hätten wir viel früher erkennen müssen, dass die Person mehr Hilfe brauchte, als wir ihr im Unternehmen bieten konnten“, resümiert Baier.

Loslassen können

Loszulassen sei enorm schwierig gewesen, aber auch wichtig. Denn Führungskräfte müssen auch an ihre eigene Gesundheit denken – und an die des Teams und der Firma. „Man muss akzeptieren, dass man nicht immer zu einer Lösung beitragen kann“, sagt Baier.

Wenn sich Teammitglieder aber öffnen, die Krankheit überstehen und weiter im Betrieb arbeiten, entstehe eine festere Bindung: „Wir haben ein ganz anderes Level des Vertrauens und des Miteinanders. Wir begegnen einander viel persönlicher und wertschätzender. Das ist für einen Vorgesetzten ein tolles Gefühl.“

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