Reifegradmodell: Mit situativer Führung Kündigungen vermeiden

Es war der erste Arbeitstag eines neuen Junior-Beraters in der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner. Er saß wie alle anderen Kolleginnen und Kollegen im Homeoffice. Hoch motiviert wartete er auf erste Anweisungen. Doch niemand meldete sich bei ihm. Auch am zweiten Tag geschah nichts. „Am dritten Tag rief er dann selbst an und fragte, was denn nun zu tun sei“, erinnert sich Inhaber Georg Kraus. „Das könne ich ihm auch nicht genau sagen. Was er denn meinen würde, habe ich geantwortet.“ Prinzip Selbstverantwortung Beim Onboarding neuer Teammitglieder folgte Kraus am liebsten dem Prinzip Selbstverantwortung. Eine strukturierte Einführung war in der Beratungsfirma unüblich. „Ich wollte nicht, dass jemand auf die Idee kam, sich einfach ins gemachte Nest zu setzen. Sie sollten von Anfang an überlegen, welchen Beitrag sie bringen können“, sagt Kraus. Sie mussten sich quasi selbst im Dschungel zurechtfinden. Für einige neue Teammitglieder war dieser Start eine irritierende Situation. Manche fühlten sich vom neuen Job überfordert. Sie kamen mit der totalen Freiheit nicht zurecht und warfen dem Chef mangelnde Führung vor. Nur wenige Wochen oder Monate nach ihrem Start kündigten manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter direkt wieder. Kraus mag selbst keine Regeln Georg Kraus bezeichnet sich selbst als einen freiheitsliebenden Menschen. Von engen Vorgaben, Regeln oder Hierarchien fühlt sich der 56-Jährige schnell eingeengt. Jahrelang beeinflusste das die Führung seiner rund hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Die meisten Leute gehen unbewusst davon aus, dass andere Menschen die gleichen Bedürfnisse haben wie sie selbst. Das war bei mir auch so“, erinnert sich der Unternehmer. [caption id="attachment_7608417" align="alignnone" width="600"] Georg Kraus, Geschäftsführer Dr. Kraus und Partner[/caption] Bei einigen Neuankömmlingen funktionierte sein freiheitliches Konzept. „Gleichzeitig gab es Leute, die damit nicht zurechtkamen und sich etwas anderes suchten. Es gibt einfach Menschen mit einer Sehnsucht nach mehr Führung und Orientierung“, erzählt Kraus heute. Vielleicht doch übertrieben? Doch immer wieder neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, ist aufwendig und teuer. „Irgendwann hat mich mein Mitgeschäftsführer darauf angesprochen, dass wir es im Onboarding vielleicht etwas übertreiben“, sagt Kraus. „Mir wurde damals klar, dass ich so führe, wie ich mir selbst eine Führungskraft gewünscht hätte. Deshalb habe ich oft den Fehler gemacht, mein Team mit Freiheit zu überfordern, obwohl sie manchmal gar nicht so weit sind“, gibt er zu. Neuer Onboarding-Prozess Um in Zukunft Kündigungen von frisch eingestellten Fachkräften zu verhindern, entwickelte das Team von Dr. Kraus & Partner 2019 einen komplett neuen Onboarding-Prozess. Dieser basiert auf den vier Reifegraden der situativen Führung. „Das ist nicht ganz meins, aber ich habe mich belehren lassen, dass das für viele Menschen funktioniert“, sagt Georg Kraus. Mehr zu den vier Reifegraden: Situative Führung: Der richtige Führungsstil für jeden Mitarbeiter Wird ein neues Teammitglied eingestellt, wird es zuerst in den Reifegrad 2 eingestuft – egal, mit welcher Ausbildung und Arbeitserfahrung. Der zweite Reifegrad ist stark unterstützend, und das neue Teammitglied hat die Möglichkeit, viele Fragen zu Abläufen in der Firma zu stellen. „Jemand kann viel Erfahrung haben, wenn er jedoch neue Aufgaben annimmt, kann sich sein Reifegrad auch wieder ändern“, erklärt Kraus. Ziel sei es immer, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterzuentwickeln. „Was aber nicht heißt, dass Reifegrad 4 für jeden Menschen erstrebenswert ist“, sagt Georg Kraus. Mentoring für den Start Alle Neuangestellten bekommen direkt zu Beginn ihres Jobs einen Mentor oder eine Mentorin an die Seite gestellt. Diese begleiten und bewerten den Entwicklungsprozess in den ersten Monaten. Sie sind für Fragen zuständig und geben Feedback. Läuft die Einarbeitung gut, sind die Mentorinnen und Mentoren auch dafür verantwortlich, dass dem Neuankömmling dem aktuellen Reifegrad entsprechend mehr Verantwortung übergeben wird. Was braucht das neue Teammitglied? „Die Mentorinnen und Mentoren müssen auch herausarbeiten, ob der andere ein Mensch ist, der gerade mehr fachliche Unterstützung braucht oder dem eine engere Beziehung wichtig ist“, sagt Kraus. Also ob gerade ein eher aufgabenorientiertes oder ein beziehungsorientiertes Führungsverhalten passend ist. Der dritte Reifegrad ist erreicht, wenn sich das Teammitglied alle wichtigen Fähigkeiten angeeignet hat, sich aber noch nicht vollständig traut, Aufgaben komplett selbstständig zu übernehmen. Die Aufgabenorientierung steht dann nicht mehr im Vordergrund wie bei Stufe 2, da inzwischen einiges an Fachwissen vorhanden ist. Die Mentorinnen und Mentoren konzentrieren sich von nun an vor allem auf die Motivation und die Beziehungsebene. „Erreicht ein Teammitglied den Reifegrad 4, gebe ich nur noch Ziele vor und mische mich auch am besten gar nicht mehr ein“, sagt Kraus. Das neue Onboarding kommt gut an Auch wenn er die Vorteile im neuen System sieht, arbeitet er immer noch am liebsten mit Menschen des Reifegrads 4 zusammen. „Die arbeiten komplett autonom, brauchen kein Lob vom Chef. Für mich einfach sehr angenehm“, sagt Kraus. Der neue Onboarding-Prozess kommt auf jeden Fall gut an. Das Feedback und die Kündigungsquote seien deutlich besser als früher, sagt Kraus. Und noch ein Vorteil: Der neue Prozess beschleunige die Einarbeitung. Schließlich muss sich niemand mehr alle Informationen mühsam im Dschungel selbst zusammensuchen. Lesen Sie drei weitere Praxisbeispiele zum Thema situative Führung: Führungsstil anpassen: Wie ein Chef Konflikte mit dem Team vermeidet – ein Praxisbeispiel Delegieren: Wie situative Führung beim Loslassen hilft Führungsstruktur überarbeiten: So finden Sie für jedes Teammitglied die richtige Aufgabe