Radical Candor
Zu hart? Zu weichgespült? So finden Sie bei Feedback den richtigen Ton

Radical Candor, „radikale Offenheit“: Wer nach dieser Methode einer Ex-Google-Managerin Feedback gibt, kann Teammitglieder besser motivieren. Wie es konkret funktioniert und was es bringt.

12. April 2024, 09:32 Uhr, von Kathrin Halfwassen, Redakteurin

Radical Candor
© Jasmin Merdan / Moment / Getty images

Wie deutlich kann ich werden – ohne den anderen zu verletzen und unhöflich zu scheinen? Wie kann ich loben, ohne dass es unaufrichtig wirkt? Feedback zu geben ist für viele Führungskräfte herausfordernd. Die Radical-Candor-Methode hilft. Eine Zusammenfassung mit Beispielen für gelungenes und unfaires Feedback.

Was ist Radical Candor?

Radical Candor bedeutet auf Deutsch übersetzt so viel wie „radikale Offenheit“ und bezeichnet eine bestimmte Methode, Feedback zu geben. Entwickelt hat sie die US-Amerikanerin Kim Malone Scott, die als Managerin unter anderem für Google und Apple arbeitete und inzwischen ihr eigenes Beratungsunternehmen leitet.

Was Radical Candor genau ausmacht, beschreibt Scott in ihrem Buch: „Radical Candor. Be a Kick-Ass Boss Without Losing Your Humanity“ sowie in vielen Vorträgen, etwa diesem auf Youtube.

Radikale Offenheit bedeutet für Scott vor allem, als Führungskraft eine positive Haltung zu den Teammitgliedern einzunehmen, den Menschen hinter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sehen – und als Führungskraft diese positive Haltung in der Kommunikation zu vermitteln. Wichtig seien dabei zwei Dinge:

  1. Am Gegenüber interessiert sein, die Menschen wichtig nehmen („Care personally“)
  2. Mit dem Gegenüber klar sprechen und es damit herausfordern – ohne aggressiv zu werden („Challenge directly“)

„Im Grunde bedeutet Radical Candor, Menschen auf eine deutliche, höfliche Art zu sagen, was man denkt. Das klingt leicht, fällt den meisten aber unglaublich schwer“, sagt Stefanie Voss, die als Business-Coachin diese Art des Feedbacks in ihren Workshops vermittelt. Der Grund: „Wir wollen alle gemocht werden und andere deshalb nicht wütend machen oder verletzen. Bei ehrlichem Feedback kann aber genau das passieren.“

Radical-Candor-Element 1: Die Menschen wichtig nehmen

Um gutes Feedback geben zu können, reicht es Scott zufolge nicht, allein auf die Arbeitsergebnisse der Einzelnen zu schauen. Vielmehr brauche es eine gute Beziehung zu Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Dafür müsse man darauf achten, was den Menschen ausmacht, der da für einen arbeitet.

Der erste Schritt dahin laut Scott: sich klarmachen, dass der eigene Job darin besteht, den Erfolg des Teams zu befördern. Und dann: den anderen zuzuhören, ihre Hoffnungen, Ängste und Träume wahrzunehmen – und ihre Ideen, wie sich das Team und Prozesse voranbringen ließen.

Umgekehrt sollte die Führungskraft selbst anderen auch mehr zeigen als nur das Arbeits-Ich – also auch Persönliches teilen.

Radical-Candor-Element 2: Das Gegenüber direkt herausfordern

Wer Feedback gibt, muss deutlich sagen, wann jemand die eigene Arbeit gut genug macht – und wann nicht. Eine Führungskraft muss also etwa sagen, wenn Teammitglieder Erwartungen nicht erfüllen oder wenn Arbeitsergebnisse es nicht rechtfertigen, weitere Mühen in ein Projekt zu investieren.

Scotts Erfahrung nach aber hadern viele Führungskräfte damit, deutliches Feedback zu geben, harte Entscheidungen dazu zu treffen, wer in einem Team welche Aufgaben übernimmt – und die Messlatte für Arbeitsergebnisse hoch zu legen. „Menschen herauszufordern, kotzt die meisten Führungskräfte regelrecht an. Dabei ist genau das oft der beste Weg, um Teammitgliedern zu zeigen, dass man sich persönlich für sie interessiert“, sagt Scott.

Wie sieht Feedback nach der Radical-Candor-Methode aus?

Wie kommunizieren Führungskräfte gemeinhin und wie unterscheidet sich typisches Feedback von Radical Candor? Dazu hat Scott eine Vier-Felder-Matrix entwickelt:

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Feedback-Arten

 

1. Brutal-aggressives Feedback

Bei dieser Feedback-Art kommunizieren Führungskräfte sehr klar mit ihren Teammitgliedern – aber nicht höflich. Dies zeigt laut Scott, dass sie sich nicht um den Menschen hinter der arbeitenden Person schert. Nur so könnten sie auf eine allzu harte, teilweise brutale Weise mit ihrem Gegenüber sprechen.

„Wer so kommuniziert, haut einfach alles unreflektiert raus, was ihn stört – selbst, wenn Dritte mit im Raum sind“, sagt Business-Coachin Voss. „Und sagt beispielsweise im Meeting vor allen anderen Dinge wie: ‚Schauen Sie sich alle mal diese miese Arbeit von Herrn Meier an. Herr Meier, manchmal frage ich mich, wie Sie auf so einen Quatsch eigentlich kommen!‘“ Solches Feedback sei heute aber selten geworden.

2. Unehrlich-manipulatives Feedback

Diese Feedback-Art nutzen Scott zufolge Führungskräfte, die sich weder für ihre Teammitglieder interessieren noch sie direkt herausfordern wollen – und sich deshalb passiv-aggressiv, nicht selten sogar hinterhältig verhalten. Etwa, indem sie unehrliches Lob äußern oder Teammitglieder hinter ihrem Rücken kritisieren.

Unehrlich-manipulatives Feedback sei typisch für Menschen, die sehr darauf bedacht sind, gemocht zu werden. Oder glauben, sich einen politischen Vorteil verschaffen zu können, indem sie sich verstellen.

3. Falsch-empathisches Feedback

Diese Feedback-Art pflegen Scott zufolge Führungskräfte, die sich sehr für ihre Teammitglieder interessieren, sie als Menschen achten und mögen – es gleichzeitig aber versäumen, sie mit Rückmeldungen zu ihrer Arbeit herauszufordern. Dadurch gerate das Feedback weichgespült. Typisch für entsprechende Gespräche: unspezifisches Lob sowie geschönte und unklare Kritik.

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„Diese Art Feedback ist die mit Abstand häufigste. Wenn ich in meinen Workshops Teilnehmern die Matrix zeige, verorten sich 90 Prozent im Quadranten der falschen Empathie“, sagt Voss.

4. Radikal-offenes Feedback

Diese Feedback-Art ist Scott zufolge die einzig wirklich motivierende. Denn damit zeigen Führungskräfte, dass sie sich wirklich für die Menschen in ihrem Team interessieren – und sie zugleich herausfordern, damit sie besser werden.

Radikal-offenes Feedback zeichne sich durch klare, konkrete, höflich vorgetragene Kritik aus sowie durch ehrliches Lob auf Augenhöhe.

Mehr dazu hier: 7 Fehler, die aus einem Lob fast eine Beleidigung machen

Das Buch und die Expertin
radical-candor-coverWie motiviere ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch radikal offenes Feedback? Das zeigt Kim Scott in ihrem Buch "Be a Kick-Ass Boss Without Losing Your Humanity“ (nur auf Englisch erhältlich) – auf unterhaltsame, einprägsame Art mit Anekdoten aus ihrer Zeit als Managerin bei Google und Apple.
 Stefanie Voss arbeitete 15 Jahre als Führungskraft bei internationalen Konzernen und gründete nach einer Weltumsegelung ihr eigenes Unternehmen. Sie berät als Business-Coachin Führungskräfte und vermittelt dabei unter anderem Feedback nach dem Radical-Candor-Prinzip.

Wo liegt der Unterschied zwischen radikal-offen und brutal-aggressiv?

Viele Führungskräfte verwechseln laut Scott radikale Offenheit mit brutal-ehrlichem Feedback. „Radikale Offenheit ist aber kein Freibrief für Frontalangriffe“, erklärt sie. „Wenn Sie einen Satz mit den Worten beginnen: ‚Lassen Sie mich radikal offen zu Ihnen sein‘ und dann Worte folgen lassen wie: ‚Sie sind ein Lügner, und ich traue Ihnen nicht‘, dann haben Sie sich wie ein Idiot verhalten.“

Denn mit solchen Sätzen zeige man, dass einem das Gegenüber als Mensch egal sei. Damit fehle ein Element von Radical Candor und man befinde sich im „Arschloch-Quadranten“, dem, brutal-aggressiven Feedback.

Praxisbeispiele zu den verschiedenen Feedback-Arten

Beispiel 1: Der neue Mitarbeiter bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück – das erste Mitarbeitergespräch steht an. So könnte das Feedback aussehen:

Brutal-aggressiv: Sie führen den Mitarbeiter vor, indem Sie etwas sagen wie: „Manchmal frage ich mich wirklich, wie Sie es schaffen, jeden Tag aufs Neue solch einen Mist zu fabrizieren.“

Unehrlich-manipulativ: Sie führen kein Mitarbeitergespräch, reden aber mit Dritten darüber, was Ihr Mitarbeiter für ein Nichtskönner ist. Etwa mit Worten wie: „Ich weiß gar nicht, wie ich den einstellen konnte.“ Und dann werfen Sie ihm irgendwann die Kündigung in der Probezeit um die Ohren.

Falsch-empathisch: Sie eiern im Mitarbeitergespräch herum, sprechen die schlechten Arbeitsergebnisse nicht an und verteilen unaufrichtiges, unkonkretes Lob wie: „Du machst das schon ganz gut, das wird alles!“

Radikal-offen: Sie sagen ganz konkret, mit welchen Leistungen Sie zufrieden sind – und an welchen Stellen Sie Änderungsbedarf sehen. Und zwar nicht im Sinne von: „Es wäre schön, wenn du mal überlegen könntest, ob du nicht besser das und das machen würdest“. Sondern mit Worten wie: „Ich habe dieses und jenes Verhalten beobachtet. Wenn du das nicht änderst, wird das diese und jene konkreten Konsequenzen haben.“

Beispiel 2: Eine Mitarbeiterin hat einen Flüchtigkeitsfehler in einer Kalkulation gemacht. Die Unachtsamkeit hat einen Auftrag gekostet. So könnte das Feedback aussehen:

Brutal-aggressiv: Sie bieten keine Unterstützung an, sondern sagen etwas wie: „Frau Meier, wie konnte so etwas passieren – haben Sie keine Augen im Kopf, oder was?“ Oder Sie nutzen den Vorfall, um die Mitarbeiterin in der Gruppe vorzuführen, und benennen alles, was falsch gelaufen ist, bis die Mitarbeiterin weinend aus dem Besprechungsraum rennt.

Unehrlich-manipulativ: Sie sitzen mit dem Kunden zusammen und sagen etwas wie: „Diese Mitarbeiterin ist eine echte Pfeife, aber ich bekomme im Moment gerade keine besseren Leute.“ Oder Sie fordern ein anderes Teammitglied auf, mal „ein Auge“ auf die Mitarbeiterin zu werfen und die Arbeitsergebnisse zu kontrollieren, damit so ein Fehler nicht nochmal passiert.

Falsch-empathisch: Sie suchen das Gespräch mit der Mitarbeiterin und sagen etwas wie: „Alles nicht so schlimm, kein Problem! Ich rede morgen mit dem Kunden – vergessen Sie das Ganze einfach.“

Radikal-offen: Sie nehmen sich die Mitarbeiterin zeitnah zur Seite und sprechen den Fehler an. Sie sagen, dass so etwas nicht wieder passieren darf. Und stellen Fragen wie: „Welchen Prozess könnten wir verändern, damit das nicht noch einmal vorkommt? Was brauchen Sie von mir, damit das nicht wieder geschieht?“

Vor dem Kunden stellen Sie sich hinter die Mitarbeiterin. Etwa so: „Wir haben über den Fehler gesprochen, ich übernehme die Verantwortung dafür.“

Was ist der Nutzen von Radical Candor?

Wer Feedback anders als auf die radikal-offene Art gibt, handelt als Führungskraft Scott zufolge unfair. Das sieht Business-Coachin Voss ähnlich: „Wenn jemand immer wieder etwas tut, was nicht gut ist oder einfach unangemessen, gehört es sich, dass wir den Menschen darauf hinweisen. Denn Sie können davon ausgehen, dass der andere dann einen blinden Fleck hat, also Verhaltensweisen aufweist, die der Person selbst gar nicht auffallen. Menschen brauchen dann eine ganz klare, unter Umständen harte, aber dabei höfliche Ansprache, damit sie sich ändern können. Und nur das ist dann fair.“

Wie das konkret aussehen kann, kennt Kim Scott aus eigenem Erleben. So habe sie lange Zeit in Präsentationen nach jedem dritten Wort „ähm“ gesagt. Bis Sheryl Sandberg, damals ihre Chefin bei Google und später lange Zeit Facebook/Meta-Co-Chefin, einmal zu ihr gesagt habe: „Das lässt dich dumm klingen.“ Scott dazu: „Manche Menschen würden jetzt sagen, es sei gemein, so etwas zu sagen. In Wahrheit aber war es das Netteste, was Sheryl in diesem Moment tun konnte. Denn es war, als wäre ich die ganze Zeit mit einem Stück Spinat zwischen den Zähnen durchs Leben gelaufen. Sheryl aber wies mich darauf hin, weil ich ihr als Mensch wichtig war!“ In der Folge nahm sich Scott einen Sprechtrainer, um souveräner zu präsentieren – und tritt heute regelmäßig als Speakerin auf.

Doch Radical Candor hilft Teammitgliedern nicht nur, sich zu verbessern. „Diese Art des Feedbacks steigert zudem das Vertrauen in die Führungskraft, die Menschen können freier arbeiten – ohne Angst vor Fehlern“, erklärt Expertin Voss. Denn sie wüssten dann, dass sie offen darauf hingewiesen würden, wenn etwas nicht passt. „So kann man einfach arbeiten, ohne ständig alle Antennen auf Empfang stellen und sich fragen zu müssen: Ist das richtig so? Oder mache ich etwas falsch?“

Darüber hinaus helfe eine Kultur des Radical Candor auch der Führungskraft selbst. „Wenn Sie anderen radikal offenes Feedback geben und vermitteln, dass Sie es umgekehrt auch bekommen wollen, dann werden Sie ganz sicher darauf hingewiesen, wenn Sie selbst etwas doof machen oder sich beispielsweise bei einer Idee verrennen“, so Voss.

Wie lässt sich Radical Candor im Alltag umsetzen?

„Der größte Vorteil von Radical Candor: Das Konzept ist extrem einfach“, sagt Business-Coachin Voss. Um eine Kultur radikaler Offenheit zu etablieren, braucht es der Expertin zufolge nur ein bisschen Zeit – für die folgenden vier Schritte:

Schritt 1: Prüfen Sie, wie Sie bisher Feedback geben

Rufen Sie sich ein paar Mitarbeitergespräche in Erinnerung und überlegen Sie, in welchem Quadranten der Radical-Candor-Matrix Sie sich verorten würden. Ihnen fällt nichts ein? Dann schauen Sie sich die Praxisbeispiele weiter oben an und überlegen Sie, welche Feedback-Art Sie pflegen.

Schritt 2: Fordern Sie als Führungskraft selbst radikal-offenes Feedback ein

„Fragen Sie Ihre Teammitglieder einmal in einer ruhigen Minute etwas wie: ‚Hey, wir arbeiten jetzt so und so lange zusammen. Ich habe mal eine ernsthafte Frage: Was sollte ich tun, um eine bessere Chefin zu sein? Und was sollte ich lassen?“

Viele seien Voss zufolge bei einer solchen Frage anfangs ein bisschen verdutzt. Meist kämen anschließend aber wertvolle Rückmeldungen. „Wichtig ist dann: zuhören, sich für das Feedback bedanken – und nicht direkt in die Gegenargumentation verfallen!“

Schritt 3: Trainieren Sie Radical Candor in Gesprächen mit Teammitgliedern

Anschließend sollten Führungskräfte Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen regelmäßig Feedback nach der Radical-Candor-Methode geben. Dabei gelte es, einige Voraussetzungen für entsprechende Feedback-Gespräche zu beachten. Sie sollten:

  • unter vier Augen stattfinden
  • an einem ruhigen Ort ablaufen
  • zeitnah zum Anlass für Lob oder Kritik erfolgen
  • in Ich-Botschaften formuliert sein.

Zudem ist es Voss zufolge sehr wichtig, dem Gegenüber Zeit zu geben, das Feedback zu verdauen. „Es gilt wieder: Zuhören ist das Wichtigste. Bieten Sie nicht direkt Lösungen an, geben sie nicht direkt Ratschläge.“

Schritt 4: Fördern Sie Radical Candor unter Ihren Teammitgliedern

Dies gelingt Voss zufolge, indem Führungskräfte nicht zulassen, dass Teammitglieder schlecht übereinander reden – sondern im Gegenteil dafür sorgen, dass diese miteinander ins Gespräch kommen. „Bei Konflikten können Sie sich auch als Mediator anbieten, also vermitteln, dass Teammitglieder gemeinsam zu Ihnen kommen können, um zusammen eine Lösung zu finden“, so Voss.