Prokrastination erkennen
So helfen Sie Mitarbeitenden, die unter Aufschieberitis leiden – ein Leitfaden

Schieben Angestellte regelmäßig Aufgaben vor sich und reißen Deadlines, kann das Abläufe massiv stören und Projekte gefährden. Wie Sie Prokrastination eindämmen und dem Problem vorbeugen: 5 Schritte.

23. April 2024, 16:16 Uhr, von Christoph Henn

Prokrastination erkennen
© urbancow / E+ / Getty Images

Die Steuererklärung abgeben, das ­Büro aufräumen, Vorsorgetermine beim Arzt vereinbaren: Fast jeder schiebt mal Aufgaben vor sich her. Laut einer Umfrage der Universität Münster 2019 unter Studierenden tun das nur 2 Prozent der Befragten nie. Etwa jeder Zehnte allerdings praktiziert extremes Aufschieben, auch Prokrastination genannt, und hat damit ein ernstes Problem. Diese Menschen leiden gesundheitlich darunter. Das kann sich bis ins Berufsleben fortsetzen. An der Uni Münster und der Freien Universität Berlin bieten sogenannte Prokrastinationsambulanzen psychologische Hilfe für Betroffene an.

Schon leichte Aufschieberitis schadet Unternehmen

Aber auch minderschwere Fälle ohne ­schwerwiegende gesundheitliche oder soziale Folgen – laut verschiedener Studien fallen ­darunter 20 Prozent der Menschen hierzulande – können für Unternehmen zum Problem werden. Vor allem dann, wenn Aufgaben unvollständig erledigt und Deadlines nicht eingehalten werden oder ein Projekt zu scheitern droht.

Doch was können Chefs und Chefinnen tun? Wie können sie Prokrastinieren erkennen und betroffenen Mitarbeitenden helfen? Welche Rahmenbedingungen braucht es, um ständiges Aufschieben einzudämmen? Und wie erkenne ich bei mir selbst, ob ich prokrastiniere? Ein Leitfaden in fünf Abschnitten.

Schritt 1: Prokrastination verstehen

„Menschen prokrastinieren, wenn sie mit einer Verpflichtung überfordert sind oder ein schlechtes Gefühl dabei haben“, erklärt Tabea Scheel, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Europa-Universität Flensburg. Im beruflichen Kontext bedeutet das: Wenn jemand eine Aufgabe als kompliziert empfindet oder die nötigen Fähigkeiten fehlen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie die Aufgabe verschiebt oder meidet.

Bei Berufsanfängern ist das häufiger der Fall als bei erfahrenen Mitarbeitenden, die eher wissen, wie sie bei kniffligen Aufgaben am ­besten vorgehen. Abschreckend und damit prokrastinationsfördernd kann es auch sein, wenn eine Aufgabe der Mitarbeiterin keinen Spaß macht und sie schon einmal schlechte Erfahrungen damit gemacht hat – beispielsweise mit einem besonders schwierigen Kunden.

Hinter Prokrastination steckt also keine ­Faulheit, im Gegenteil: Häufig sind gerade Menschen betroffen, die alles besonders gut machen wollen. „Der Wesenszug des Perfektionismus korreliert stark mit Prokrastination“, erklärt der promovierte Arbeitspsychologe und Coach Johannes Hoppe aus Halle. Wer sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellt, vermeidet demnach eher Aufgaben, bei denen dieser ­Anspruch nicht zu halten ist.

Bei anderen wiederum kann eine übermäßig ausgeprägte Unsicherheit dafür sorgen, dass sie Dinge unnötig aufschieben. „Menschen, die von den Eltern oder in der Schule stets gehört haben, dass sie etwas nicht schaffen, trauen sich weniger zu“, erklärt Scheel. Das kann zu Prokrastination führen – und im Beruf noch schlimmer werden. Die Misserfolgserfahrung setzt sich fort, wenn Führungskräfte etwa nur kritisieren und keine Wertschätzung zeigen.

Ebenfalls anfälliger sind impulsive Menschen, die sich leicht ablenken lassen, ob vom Gespräch der Kollegin oder den neuesten Posts auf Linkedin oder Instagram. Fachleute sprechen von mangelnder Selbstregulation. Sie verhindert es häufig, dass man Aufgaben wie geplant konsequent abarbeitet.

Eher selten ist das Phänomen des „Sensation Seeking“, das ebenfalls hinter Prokrastination stehen kann. „Manchen Menschen macht Arbeit nur Spaß, wenn sie unter Druck sind“, erklärt Tabea Scheel. Diesen Druck machen sich Sensation Seeker oft selbst, indem sie Aufgaben möglichst lange verschieben, um sie dann in einer Art Adrenalinrausch zu bewältigen.

Besser wird die Leistung dadurch aber nicht, betont die Wissenschaftlerin. Schließlich fehle auch in diesem Fall am Ende Zeit, beispiels­weise um ein Ergebnis in Ruhe nachzuprüfen. ­Tabea Scheel ist überzeugt: „Niemand arbeitet unter Druck besser.“

Nicht jedes Aufschieben ist Prokrastination

Wichtig: Mitunter kann es gute Gründe dafür ­geben, Aufgaben aufzuschieben. „Strategische Verschiebung kann sehr sinnvoll sein“, erklärt Johannes Hoppe. Wer beispielsweise noch nicht alle Informationen für eine Aufgabe hat, wartet vernünftigerweise noch ab. Und wenn ein anderes, wichtiges Projekt früher fertig sein muss, ist es unabdingbar, entsprechend zu priorisieren. Selbst wenn ein Vorhaben nicht pünktlich fertig wird, muss das noch lange nichts mit Prokrastination zu tun haben. Organisatorische Defizite können genauso dahinterstecken wie unklare Kommunikation, Spannungen im Team oder familiäre Probleme eines Mitarbeiters oder Mitarbeiterin.

Schritt 2: Prokrastination bei Mitarbeitenden erkennen

Es gibt allerdings einige Merkmale, die darauf hindeuten können, dass jemand Aufgaben ohne rationale Gründe von sich wegschiebt oder ­vermeidet. Ein Warnzeichen laut Scheel: Wenn eine Mitarbeiterin sehr gestresst wirkt und Nachfragen zum Projektfortschritt oder zu Details ihrer Arbeit ausweicht. Noch verdächtiger ist es, wenn jemand erst kurz vor Ende eines länger laufenden Projekts grundlegende Fragen stellt, etwa nach bestimmten Dokumenten oder dem Projektziel. „Dann sollten Vorgesetzte sehr hellhörig werden“, sagt Scheel.

Wann und wie Sie Prokrastination ansprechen sollten

Sie vermuten, ein Teammitglied leidet stark unter Prokrastination? Nicht überreagieren, lautet der grundsätzliche Rat von Arbeitspsychologin Scheel. „Ich würde nur handeln, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Projekt akut gefährdet ist.“ Wenn die Chefin sich darüber ärgert, dass ein Mitarbeiter „schon wieder“ zur Kaffeemaschine läuft oder Aufgaben in einer ungewöhnlichen Reihen­folge erledigt, hält die Expertin ein Krisen­gespräch zum Thema Aufschieben für über­trieben. „Es sollte nur um konkrete Aufgaben und Projektfortschritte gehen, nicht um all­gemeines Verhalten.“

Experten raten dazu, Teammitgliedern Hilfe anzubieten, bei denen sich klar und über einen längeren Zeitraum abzeichnet, dass sie häufig Aufgaben verschleppen und Deadlines nicht einhalten – aber eher nach Abschluss eines ­Projekts als mittendrin.

„Betroffene sind oft sehr verletzlich und zweifeln an sich selbst, wenn etwas nicht so ­geklappt hat, wie es sollte“, sagt Coach Hoppe. Er empfiehlt, in einem niederschwelligen ­Gespräch gemeinsam zu klären, was zuletzt schiefgelaufen ist und wie es beim nächsten Mal besser laufen kann. „Dabei sollten Sie die Probleme klar und direkt benennen, aber nicht über Schuld oder Versagen sprechen.“ (Dieser Spickzettel zum Download hilft, solche Feedbackgespräche souverän zu führen.)

Schritt 3: Teammitglieder konkret unterstützen

Grundsätzlich hilft es, wenn sich Aufgaben so verteilen lassen, dass sie den individuellen ­Neigungen der Teammitglieder entsprechen. „Das wird allerdings nicht immer machbar sein“, sagt Tabea Scheel – und warnt zugleich davor, die anspruchsvollen Tätigkeiten stets an die gleichen, besonders leistungsfähigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu übertragen. „Damit verhindern Sie, dass andere an schwierigen Aufgaben wachsen“, sagt die Expertin. Besser ist es, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezielt für den Job zu qualifizieren.

Im Projekt sind Meilensteine laut Scheel ein entscheidendes Hilfsmittel für Mitarbeiter, die zum Prokrastinieren neigen und bei neuen ­Aufgaben oft nur einen riesigen Berg vor sich sehen. Auch große, umfangreiche Projekte ­verlieren ihren Schrecken, wenn sie in viele kleinere Etappen und Ziele unterteilt werden. Wie kleinteilig man dabei vorgeht, hängt von den Bedürfnissen des Teammitglieds ab: Mal reichen drei bis vier Zwischenschritte, mal sind wöchentliche Meilensteine sinnvoll. „In sehr schweren Fällen sollte man sogar tägliche Ziele definieren“, sagt Scheel.

Im Idealfall, erklärt die Professorin, braucht die Führungskraft die Meilensteine nicht selbst festzulegen. Besser ist es, wenn sie die Mitarbeitenden eine Struktur vorschlagen lässt, die sie für realistisch halten. „So fühlen sich die Menschen weniger kontrolliert und stärker abgeholt“, sagt Scheel.

Auch Johannes Hoppe empfiehlt, Projekte in Zwischenziele zu unterteilen und darauf zu achten, dass eine Aufgabe die jeweilige ­Mit­arbeiterin nicht überfordert. „Die Tätigkeit sollte aber nicht zu leicht sein“, sagt er und die Ziele realistisch, aber anspruchsvoll. Auf dem Weg dorthin setzt der Psychologe Johannes Hoppe auf „Guidelines statt Deadlines“. Das bedeutet nicht, dass konkrete Abgabe- oder Fertigstellungstermine abgeschafft werden ­sollen. Hoppe plädiert aber dafür, dass die Termine, die oft Ängste auslösen, weniger stark im Fokus stehen. Wenn Chefs und Che­finnen durch das Projekt begleiten und regelmäßig Feedbackgespräche zu Zwischenzielen abhalten, wird die finale Deadline fast auto­matisch weniger furchterregend.

Bei den Zwischengesprächen ist es laut ­Hoppe wichtig, die Person nicht zu stark zu kontrollieren. „Ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Verantwortung, Freiheitsgrad und Begleitung ist wichtig.“

Schritt 4: Prokrastination erschweren

Es liegt auch an den Arbeitsbedingungen, ob und wie stark sich Prokrastination im Betrieb entfalten kann. „Am wichtigsten ist eine Unternehmenskultur, die es den Mitarbeitenden ­zugesteht, Fehler zu machen“, sagt Johannes ­Hoppe. „Denn wenn Menschen Angst davor ­haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Tätigkeiten vermeiden oder verschieben.“

Stattdessen sollten Mitarbeitergespräche, konstruktives Feedback und klares Lob zum Firmenalltag gehören, sagt Scheel und fügt hinzu: „Alles, was hilft, dass Mitarbeitende sich gesehen und wertgeschätzt fühlen, hilft tendenziell auch gegen Prokrastination.“

Die Arbeitsmenge im Betrieb überprüfen

Scheel zufolge lohnt es sich außerdem, öfter mal auf die Arbeitsbelastung der Teammitglieder zu schauen, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels. „Viele Menschen fühlen sich heute ­dadurch überfordert, dass sie immer mehr ­Aufgaben erledigen müssen“, sagt Scheel. Führungskräfte sollten sich im Zweifel die Frage stellen: Ist das wirklich Prokrastination, oder kann das Team gar nicht alles schaffen?

Ablenkungen reduzieren

„Häufig sind es die Chefinnen und Chefs, die Mitarbeitende mit Fragen zu unterschiedlichsten Themen aus der Arbeit herausreißen“, sagt Scheel. Damit beförderten Sie Prokrastination. Scheel empfiehlt, zum Beispiel regelmäßig die Häufigkeit und Zeit­punkte von Meetings zu hinterfragen. Mit Blick auf Prokrastination könne es sinnvoll sein, ­Besprechungen abzuhalten, wenn Menschen ohnehin gerade weniger leistungsfähig sind – zum Beispiel nach dem Mittagessen.

Homeoffice-Regelungen aufstellen

Wer sich leicht ablenken lässt, hat es ­möglicherweise zu Hause besonders schwer, bei der Sache zu bleiben: von der piependen Waschmaschine über den klingelnden Post­boten bis zum Fenster, das man vielleicht schnell putzen könnte. Aber deshalb das ganze Team häufiger ins Büro zwingen? „Im Zweifel müssen Führungskräfte es aushalten, dass für ein Team unterschiedliche Bedingungen gelten“, sagt Scheel.

Anstatt genereller Home­office-Verbote, die wie Bestrafungen wirken, empfiehlt sie, gemeinsam mit der prokrastinierenden Mitarbeiterin für ein bestimmtes wichtiges Projekt individuelle Homeoffice-Regeln aufzustellen, nach dem Motto: „Ich glaube, wir kriegen diese Aufgabe besonders gut hin, wenn du in den nächsten Wochen vier Tage im Büro und einen zu Hause arbeitest.“

Teamarbeit etablieren

Angestellte öfter zusammenarbeiten zu lassen, kann ständiges ­Aufschieben abmildern. Denn es fällt dann eher auf, wenn jemand Aufgaben öfter liegen lässt. Außerdem will die prokrastinierende Person möglicherweise nicht ihre Kollegen oder Kolleginnen in Mitleidenschaft ziehen. Teamwork kann wie ein soziales Korrektiv wirken. „Das gilt vor allem, wenn das Team die zur Prokrastination neigende Person stützt und sie nicht explizit kontrolliert“, sagt Psychologe Hoppe. Zugleich müsse die Einbindung stark genug sein, dass ein Wegducken kaum möglich ist. „Man darf sich nicht darauf verlassen können, dass die anderen das für mich ausbügeln“, sagt Scheel. Teilziele und verteilte Aufgaben sind insofern auch im Team sinnvoll.

Schritt 5: Sich selbst in den Blick nehmen

Wenn der Chef oder die Chefin prokrastiniert, ist das ein ernstes Problem, denn es betrifft fast immer auch andere. „Solange ich meine Auf­gaben nicht auf die Reihe kriege, kann auch mein Team nicht richtig arbeiten“, sagt Tabea Scheel. Es lohnt sich also doppelt, die eigene Aufschieberitis zu analysieren und mit konkreten Schritten zu bekämpfen. (Dieser Prokrastinations-Selbsttest zum Download hilft dabei.)

Experten empfehlen zudem Hilfe von außen – denn im Gegensatz zu Mitarbeitenden haben Chefs keine Führungskräfte, die mit ihnen ­Zwischenziele festlegen und in Feedback­gesprächen überprüfen.

Neben professionellen Coaches kommen auch andere Unternehmerinnen oder Unternehmer als Sparringspartner in­frage. „Treffen Sie sich alle zwei Wochen, und besprechen Sie, was Sie geschafft haben, was nicht – und warum nicht“, rät Scheel. Wer ­reflektiert, erkennt, welche Aufgaben man an Mitarbeitende delegieren oder sein lassen sollte: die, die einen regelmäßig überfordern, und die, die überhaupt keinen Spaß machen.