Peer Recruiting
Warum Sie Ihr Team beim Recruiting einbeziehen sollten

Wer sein Team im Bewerbungsprozess mitentscheiden lässt, minimiert das Risiko, ungeeignete Leute einzustellen. Peer Recruiting nennt sich diese Personalgewinnung. Zwei Firmen zeigen, wie es geht.

5. Dezember 2022, 08:18 Uhr, von Leonie Albrecht, Redakteurin

Peer Recruiting
© twomeows / Moment / Getty Images

Wer bei Porath Customs Agents, ein Zolldienstleister aus Hamburg, arbeiten will, den erwarten mindestens drei Vorstellungsgespräche. Die Bewerber sitzen hierbei nicht nur ihren künftigen Vorgesetzten gegenüber, sondern auch Kolleginnen und Kollegen. Letztere entscheiden auch mit, wer eingestellt wird. Peer Recruiting nennt sich diese Art der Personalgewinnung, das englische „peer“ steht dabei für Kollege oder auch Gleichgestellter.

Die Vorteile von Peer Recruiting

Die Einstellung von Personal ist häufig eine Aufgabe von Führungskräften, was aber einen Nachteil hat: „Diejenigen, die mit der Person arbeiten werden, sind oft gar nicht im Prozess beteiligt. Das baut eine Distanz auf – dabei hat Arbeit total viel mit Kollegialität zu tun“, sagt Silke Hermann, Unternehmensberaterin für Organisationsentwicklung aus Wiesbaden. Sie berät Firmen auch zu Peer Recruiting.

Sind dagegen auch Teammitglieder im Bewerbungsprozess eingebunden, lässt sich häufig besser beurteilen, ob die Bewerberin oder der Bewerber ins Team passt. Zudem bekommen die Kandidaten eine bessere Vorstellung davon, was sie im Job erwartet. So lassen sich Fehlbesetzungen vermeiden, und das Team fühlt sich eher verantwortlich für die Neuen. „Die Einarbeitung geht schneller. Und das ist letztendlich auch fürs Unternehmen billiger“, sagt Silke Hermann.

Doch wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sinnvoll in den Einstellungsprozess einbezogen werden? Zwei Unternehmen zeigen, wie und warum sie Peer Recruiting eingeführt haben.

Beispiel 1: Dem Team mehr Verantwortung geben

Beim Zolldienstleister Porath mit mehreren Niederlassungen etwa in Frankfurt und Polen und rund 100 Angestellten arbeiten vor allem Logistikfachkräfte. Lange Zeit überließ Chef Thorsten Porath die Auswahl neuer Mitarbeiter Personalvermittlern. „Mich aus den Bewerbungsprozessen völlig rauszunehmen war einer meiner größten Fehler“, sagt er rückblickend – seit 1992 arbeitet er im Unternehmen und übernahm die Firma 2003 von seinem Vater. „Wenn nur ein Personalvermittler oder ein Teamleiter das Gespräch führt, hat man eine sehr einseitige Sicht auf den Bewerber.“ Und das führte seiner Erfahrung nach nicht immer zur optimalen Besetzung einer Stelle.

Verändert hat er den Einstellungsprozess, als er 2020 das Unternehmen umstrukturierte. Die Angestellten arbeiten heute in sich selbst organisierenden Teams. Dadurch fiel quasi die mittlere Führungsebene weg. Nur logisch, dass sie jetzt auch bei Personalentscheidungen mitredeten, sagt Porath. Seither entscheiden nicht betriebsfremde Personalvermittler, sondern die Mitarbeiter, wer sie verstärken darf.

Der Bewerbungsprozess ist genau festgelegt: Ein internes Team kümmert sich darum, dass Stellenanzeigen veröffentlicht werden und trifft eine Vorauswahl unter den Bewerbern. Chef Porath lernt jeden Kandidaten in einem ersten Gespräch kennen und erklärt den Ablauf des Peer Recruitings: „Wir führen ausschließlich Einzelgespräche. Der Bewerber wird nicht vor ein Tribunal mit sechs Leuten gesetzt und ins Kreuzverhör genommen. Sonst entsteht kein richtiges Gespräch“, sagt er.

Mindestens drei Gespräche soll der Kandidat führen, am besten sogar bis zu fünf. Jedes Teammitglied, das mit dem Bewerber arbeiten wird, darf einen Termin ausmachen. Für die Gespräche gibt es keine festgelegte Dauer und keinen Leitfaden. „Von 30 Minuten bis zwei Stunden ist alles drin“, sagt Porath.

Die meisten sprechen über ihren Arbeitsalltag, fragen nach den Erfahrungen ihres Gegenübers und wie es sich die Zusammenarbeit vorstellt. „Jeder darf im Einzelgespräch auch über das Gehalt reden, um eine Einschätzung zu bekommen. Aber die Verhandlung und die formale Einstellung liegen bei mir“, sagt der Unternehmer.

Kandidaten richtig zu beurteilen ist eine Frage der Übung

Innerhalb einer Woche sollen alle Gespräche stattgefunden haben, danach diskutiert Chef Porath mit den Team, ob es passt. „,Ich hatte ein komisches Gefühl‘ ist kein ausreichender Grund“, erklärt der Unternehmer. „Jeder muss sachlich begründen, warum er den Bewerber einstellen will oder warum nicht.“

Am Ende muss die Entscheidung einstimmig sein – sobald eine Person dagegen stimmt, ist der Bewerber raus. Auch wenn mehrere Kandidaten infrage kommen, müssen sich alle auf einen verständigen. Uneinigkeiten gab es aber bisher nicht.

Doch können Beschäftigte ohne Führungsverantwortung Bewerber richtig beurteilen? Silke Hermann, die Porath bei der Umstrukturierung seiner Firma begleitete, weiß aus Erfahrung: Das Team muss Rekrutieren üben. Denn nicht jeder kann auf Anhieb die richtigen Fragen stellen und einschätzen, ob jemand für den Job geeignet ist. „Es gibt Mitarbeiter, die suchen ihre Kollegen danach aus, ob sie mit ihnen befreundet sein könnten. Aber das sollte nicht im Vordergrund stehen“, sagt sie.

Die Expertin empfiehlt deshalb, vor der Einführung von Peer Recruiting in einem Team-Workshop Erwartungen zu klären. Welche Mitarbeiter brauchen wir? Was ist uns in der Zusammenarbeit wichtig? Zudem sollte sich das Team auch danach austauschen, etwa über Erfolge, Fehler und was sich daraus lernen lässt.

Beispiel 2: Das Miteinander im kleinen Team stärken

Auch in Firmen mit klassischen Hierarchien kann Peer Recruiting funktionieren. Das zeigt die Nürnberger Unternehmensberatung von Moritz Weissman. Ihm war schon immer wichtig, dass neue Kollegen gut zum kleinen Team mit rund 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern passen.

Früher gab es für die Kandidaten einen Probearbeitstag, bei dem sie mit Kollegen zu Kunden gefahren sind. Mit der Zeit fanden sich aber immer weniger Kunden, die offen dafür waren, dass Bewerber bei Beratungsgesprächen dabei sind. Deshalb setzt Weissman seit 2017 auf Peer Recruiting.

Auch hier führt der Chef das Erstgespräch, am Telefon und im Büro. Den Bewerber erwarten dann zwei Gesprächsrunden mit jeweils zwei Personen: Zuerst beschäftigen sich zwei Teammitglieder mit der Persönlichkeit des Kandidaten. Was motiviert ihn? Was ist ihm wichtig? In der zweiten Runde befassen sich zwei andere Kollegen mit der Qualifikation und der Berufserfahrung.

Jedes Gespräch dauert etwas mehr als eine Stunde, sodass der Kandidat rund drei Stunden vor Ort ist und insgesamt fünf Leute aus der Firma kennenlernt.

Wer ins Vorstellungsgespräch geht, auch das ist in der Unternehmensberatung festgelegt: „Idealerweise sind je Gespräch zwei Kollegen aus unterschiedlichen Hierarchiestufen dabei.“ Mindestens eine Person sollte die Führungskraft des künftigen Mitarbeiters sein. Beispiel: Bewirbt sich jemand als Senior Berater, der in der Hierarchie weit oben stehen wird, nimmt immer Weissman am Vorstellungsgespräch teil. „So bekommen wir einen guten Rundumblick“, sagt er. Was sagt etwa ein junger Kollege über den Kandidaten, der sein Vorgesetzter werden könnte? Wie beurteilt eine Führungskraft die künftige Mitarbeiterin?

Doch anders als bei Porath dürfen nicht alle, die möchten, am Einstellungsprozess teilhaben. „Wir nehmen zwar auch Berater in den Prozess auf, die noch nicht viel Berufserfahrung haben“, erklärt Weissman. Dennoch achtet er darauf, dass sie eine gewisse Zeit im Betrieb sind und die Arbeitsweise kennen.

Auch über das Gehalt kann und soll nicht jeder aus Weissmans Team im Vorstellungsgespräch reden. Die Verhandlung über die Bezahlung führen die Vorgesetzten im Zweiergespräch. „Beim Peer Recruiting geht es nur um die Entscheidung: Stellen wir die richtige Person ein? Auf die Details einigen wir uns dann ohne das Team“, sagt Weissman.

Mindestens einer muss klar für den Kandidaten stimmen

Nach den Gesprächen muss jeder entscheiden, ob er den Bewerber einstellen will, was dafür oder dagegen spricht. „Das können fachliche und menschliche Gründe sein“, sagt Weissman. Idealerweise sind alle für die Einstellung des Bewerbers. Doch mindestens eine Person muss ein eindeutiges Ja äußern, und keiner sollte dagegen sein. Sind alle gleichgültig und keiner ist klar dafür, zählt er das als Absage.

Der Unternehmer ist überzeugt, dass jede Firma Peer Recruiting umsetzen kann, vor allem dort, wo Zusammenarbeit wichtig ist: „Man braucht die Bereitschaft, die Meinung von jedem als vollwertig zu akzeptieren – dann geht das.“

Er gibt aber auch zu bedenken: Drei Stunden Bewerbungsgespräch mit vier Mitarbeitern – das verlängert den Bewerbungsprozess. Teilweise dauere es vier Wochen, bis sich ein Termin findet, sagt Weissman. Die Gefahr, dass Bewerber abspringen, ist hoch.

Hinzu kommt: Die Berater sind Weissmans teuerste Fachkräfte. „Ein Recruiter wäre wohl günstiger. Es ginge auch schneller, wenn ich neue Mitarbeiter aussuche und sie meinem Team vorsetze“, gibt er zu. „Aber das finde ich schwierig. Wir sind sehr unterschiedlich. Wenn mehrere Personen involviert sind, treffen wir die besten Entscheidungen.“

Bei den Teammitgliedern komme es gut an, dass sie im Einstellungsprozess mitreden können. Und wenn sich mal später herausstellt, dass jemand doch nicht so gut auf eine Stelle passt wie erwartet, fällt dem Team die Trennung leichter, weil schließlich alle die Verantwortung mittragen, sagt Weissman.

Der Zolldienstleister Porath sieht ebenfalls mehr Vor- als Nachteile von Peer Recruiting: Bewerber fühlten sich wertgeschätzt. Auch das Team ist überzeugt, sagt er: „Die zusätzliche Zeit ist es absolut wert. Alle fühlen sich verantwortlich und sind motiviert, sich um den neuen Kollegen zu kümmern und ihn zu halten.“

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