Lebensarbeitszeitkonto
Mit einem neuen Arbeitszeitmodell gegen den Fachkräftemangel

Das Unternehmen Zahnen Technik kämpft gegen den Fachkräftemangel. Ein Lösungsansatz: Lebensarbeitszeitkonten. Warum das Modell nicht nur Vorteile für Angestellte, sondern vor allem für Firmen hat.

5. Juli 2021, 06:06 Uhr, von Anna Wilke, Redakteurin

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Lebensarbeitszeitkonto
© the_burtons/Moment/Getty Images

Herbert Zahnen klingt ein bisschen stolz, wenn er sagt: „Im Mittelstand ist unser Arbeitszeitmodell nicht verbreitet.“ Vielen sei das Modell zu kompliziert. „Das gibt’s sonst eigentlich nur in Konzernen.“ Aber mehr klassischer Mittelstand geht fast nicht als in seinem Unternehmen Zahnen Technik. Der Kläranlagenhersteller ist inhabergeführt in zweiter Generation, hat über 120 Angestellte und beliefert aus dem beschaulichen Arzfeld in der Eifel Kunden in der ganzen Welt. Seit 2000 stieg der Umsatz von rund 1 Million auf 20 Millionen Euro. Mit dem Erfolg bei Zahnen Technik entstand aber auch eine Schwierigkeit: Das Unternehmen hat einen hohen Bedarf an qualifizierten Fachkräften.

Welches Problem wird gelöst?

Arzfeld ist nicht gerade Berlin, Hamburg oder München. Also musste Herbert Zahnen etwas mehr bieten als Büroobst und Rückenkurse, um als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden.

Und nicht nur die Suche nach neuen Teammitgliedern war für das Unternehmen enorm wichtig, sondern auch die langfristige Personalbindung. „Wir hatten beispielsweise das Problem, dass Angestellte, die ihren Meister machen wollten, ihren Job aufgeben mussten. Oft orientierten sie sich nach der Weiterbildung um und suchten sich eine Anstellung in einem neuen Unternehmen“, erklärt Helena Nickels, Personalreferentin bei Zahnen Technik. Herbert Zahnen war sich sicher: Ein neues und flexibles Arbeitszeitmodell muss her.

Wie ging die Firma vor?

Doch welches Modell ist das richtige für sein Unternehmen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, ließ sich Zahnen Technik 2017 vom Projekt „Zeitreich“ beraten. Im Rahmen dieses vom Bundesarbeitsministerium geförderten und von Jutta Rump begleiteten Projekts wurden verschiedene Modellbetriebe zum Thema Arbeitszeit und Arbeitsorganisation beraten.

Im ersten Schritt wurden der Status quo und die Wünsche der Angestellten ermittelt. In einem Fragebogen wurden Themen abgefragt, wie: Welche Arbeitszeitmodelle gibt es im Betrieb? Welche Beschäftigten nutzen welche Modelle? Wo liegen Stärken und Schwächen? Welches Konzept bietet Spielräume für flexible Arbeitszeitregelungen? Wo gibt es Änderungsbedarf, wo und warum Konflikte? Aufbauend auf diesen Ergebnissen, erarbeiteten Teammitglieder aus ganz verschiedenen Abteilungen in mehreren Workshops das neue Konzept.

Alle Beschäftigtengruppen in die Entwicklung eines neuen Arbeitszeitmodells miteinzubeziehen, das empfiehlt Zeitreich-Expertin Jutta Rump in solchen Fällen immer. „Ich bin Fan von partizipativen Prozessen“, sagt sie. Nur so entsteht schließlich eine Lösung für alle Angestellten im Unternehmen.

„Zu Beginn der Workshops waren wir noch ganz ergebnisoffen“, erinnert sich Herbert Zahnen. Doch schnell wurde die Richtung klar: Ein Lebensarbeitszeitkonto soll es werden. Denn um einen reibungslosen Ablauf in einem Produktionsbetrieb zu gewährleisten, müssen die Angestellten zur selben Zeit vor Ort sein. Ein unregelmäßiges Kommen und Gehen über den Tag verteilt ist nicht umsetzbar. Eine Flexibilisierung über Monate oder Jahre hinweg hat hingegen zahlreiche Vorteile.

Wie wird das Modell gelebt?

Am 1. Januar 2018 war es dann endlich so weit: Das Lebensarbeitszeitkonto wurde bei Zahnen Technik eingeführt. Auf diesem Konto können die Angestellten Zeit ansparen und auch wieder abheben – ähnlich wie bei einem Sparbuch. Dazu protokollieren alle Beschäftigten ihre Arbeitszeiten in einem digitalen Zeiterfassungssystem. Am Ende jeden Monats werden die Überstunden auf das Lebensarbeitszeitkonto gutgeschrieben.

Neben Überstunden können auch Urlaubstage gesammelt werden. „Der gesetzliche Jahresurlaub muss natürlich genommen werden. Aber wir gewähren mehr als die 20 vorgeschriebenen Tage, und wer die nicht nutzt, kann sie einzahlen“, erklärt Herbert Zahnen. Alle Urlaubstage, die am 31. März des Folgejahres noch offen sind, werden wie die Überstunden automatisch auf das Langzeitkonto gebucht. Zudem können auch Gehaltsbestandteile angespart werden. Das bedeutet, dass jeden Monat etwas weniger Gehalt ausgezahlt und stattdessen auf das Konto eingezahlt wird. Auch Weihnachts- und Urlaubsgeld können gespart werden.

Wann immer nötig, kann die angesammelte Zeit vom Konto wieder abgehoben werden. Beispielsweise für eine Fortbildung, ein Sabbatical oder den Vorruhestand. „Für die Vorankündigung haben wir ein Verhältnis von zwei zu eins festgelegt. Wenn jemand drei Monate in die Freistellung geht, muss er das sechs Monate vorher ankündigen“, erklärt Nickels.

Das Stundenguthaben auf dem Zeitkonto kann auch genutzt werden, um vorübergehend die wöchentliche Stundenzahl zu reduzieren – „wenn jemand beispielsweise eine Zeit lang Familienangehörige pflegen oder Kinder betreuen möchte“, erläutert die Personalreferentin.

Bei Zahnen Technik gibt es keinen Zwang, das Modell zu nutzen. Inzwischen haben aber rund 30 Prozent der Angestellten ein Konto eingerichtet. Bisher wurden die Auszeiten vor allem für Meister-Fortbildungen genutzt.

Welche Vorteile hat es?

Die Aussicht auf einen frühen Ruhestand oder ein Sabbatical hat einen positiven Einfluss im Recruiting und bindet Fachkräfte langfristig. Doch Firmen, die ein Lebensarbeitszeitkonto einführen, haben noch mehr Vorteile: Durch den eigenverantwortlichen Umgang mit der Arbeitszeit je nach Lebensphase werden auch Belastungen verringert. So kann beispielsweise eine zwischenzeitliche Auszeit vor Burnout schützen und die Leistungsfähigkeit erhalten.

Ein flexibles Arbeitszeitmodell gibt Beschäftigten viel Gestaltungsspielraum: längere Reisen, interessante Fortbildungen, Familienplanung – private Pläne und Job müssen sich nicht mehr automatisch im Weg stehen. Zudem lassen sich mit Lebensarbeitszeitkonten auch Steuern und Sozialabgaben sparen. Denn die werden erst bei der Auszahlung des Wertguthabens fällig. Das Guthaben wird außerdem verzinst.

Für wen eignet es sich?

Lebensarbeitszeitkonten eignen sich grundsätzlich für alle Unternehmen. Auch Herbert Zahnen sieht keine Nachteile in seinem Modell. Allerdings sei der Aufwand vorab ziemlich hoch. Rund ein halbes Jahr arbeitete das Zahnen-Team an dem Modell. In dieser Zeit wurden sechs Workshops von den Beraterinnen und Beratern des Zeitreich-Projekts geleitet. Unternehmen, die sich eine externe Beratung leisten wollen, müssen mit Tagessätzen im drei- oder sogar vierstelligen Bereich rechnen.

Vor allem das Verfassen der Betriebsordnung war sehr zeitaufwendig. „Darin steht zum Beispiel sehr detailliert, wie genau ein- und ausgezahlt werden kann“, erklärt Herbert Zahnen. Aber auch, was mit dem Konto bei einer Kündigung oder langer Krankheit passiert.

Auch andere mögliche Problemsituationen wurden in der Betriebsordnung vorab festgehalten. Für den Fall eines Konflikts, weil beispielsweise betriebliche Gründe gegen eine Auszeit sprechen, wurde eine sogenannte Clearing-Stelle eingeführt. Diese aus mehreren Teammitgliedern und der Geschäftsführung bestehende Gruppe bemüht sich um eine einvernehmliche Klärung. „Das war bisher zum Glück nicht nötig“, sagt der Unternehmer.

Aufgrund des hohen bürokratischen Aufwands sind Lebensarbeitszeitkonten bisher vor allem in sehr großen Unternehmen und Konzernen verbreitet. Auch bei Angestellten kommen Lebensarbeitszeitkonten oft gut an. Dieses Modell finden vor allem Menschen gut, die schon an ihre Rente denken und Zeit sparen wollen, um früher in den Ruhestand zu gehen. „Wer aber auch junge Leute für das Modell begeistern will, sollte verschiedene Optionen anbieten“, sagt Arbeitspsychologin Ulrike Hellert. Etwa, dass Fachkräfte auch ein Sabbatical machen können.

Denkbar ist zudem, dass Mitarbeiter sich die angesparten Stunden bei Bedarf auch kurzfristig auszahlen lassen können. „Mit einem Lebensarbeitszeitkonto, das sich flexibel nutzen lässt, können Firmen ihre Attraktivität als Arbeitgeber deutlich steigern“, sagt Hellert.

Was ist rechtlich zu beachten?

Das „Flexi-II-Gesetz“ legt den Rahmen für Lebensarbeitszeitkonten fest. Darin steht unter anderem, dass solche Konten in Geld geführt werden müssen. „Das bedeutet, der Wert der einbezahlten Stunden oder Urlaubstage wird umgerechnet“, erklärt Livia Merla, Fachanwältin für Arbeitsrecht und geschäftsführende Partnerin der Kanzlei Merla Ganschow & Schmitt in Berlin.

Zudem muss das angesparte Guthaben bei Insolvenz abgesichert sein. In mittelständischen Unternehmen funktioniert das oft mithilfe eines externen Anbieters, beispielsweise durch eine Versicherung, Bank oder Investmentfondsgesellschaft. Inzwischen gibt es zahlreiche unterschiedliche Angebote am Markt. Das Wertkonto ist dann auch bei Kurzarbeit geschützt. Zahnen Technik ließ sich von der Hausbank beraten und entschied sich schließlich für einen großen deutschen Versicherer. Dort wurden Depotkonten für die Angestellten eingerichtet, auf das die gesparten Stunden eingezahlt werden.

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