Grundbildung
Was tun, wenn Angestellte nicht lesen können?

Ein unterschätztes Risiko mit hohen Kosten: Wie sich fehlende Grundbildung auf Ihr Unternehmen auswirkt und was Sie dagegen tun können – eine Anleitung in 5 Schritten.

28. Mai 2024, 17:17 Uhr, von Anna Wilke, Redakteurin

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Grundbildung
Mangelnde Grund­bildung: In Deutschland können rund 6,2 Millionen Erwachsene wenig bis gar nicht lesen.
© Anton Vierietin / iStock / Getty Images Plus

„Chef – der Mann kann nicht lesen!“ Auch zwei Jahrzehnte nach seiner Ausstrahlung ist der schwarz-weiße Werbespot des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung vielen noch in Erinnerung. In der Szene ignoriert ein Lagerarbeiter das Schild „Beladen verboten“. Die Folge: zusammengebrochene Regale und ein Chef am Rande des Nervenzusammenbruchs. Während der vor Scham erstarrte ­Arbeitnehmer hilflos seine Mütze knetet, erklärt sein Kollege dem entsetzten Chef, dass der Lagerarbeiter nicht lesen kann.

20 Jahre später ist die Thematik noch immer relevant. In Deutschland können rund 6,2 Millionen Erwachsene wenig bis gar nicht lesen – oder allenfalls ganz einfache Sätze entziffern. Über 60 Prozent von ihnen sind berufstätig, ergab die jüngste LEO-Grundbildungsstudie der Universität Hamburg von 2018. Insbesondere in ­mittelständisch geprägten Branchen wie dem Bau-, Reinigungs-, Hotel- und Gaststätten­gewerbe sind viele der sogenannten gering ­literalisierten Menschen beschäftigt.

Die Scham bei Betroffenen ist oft groß

Viele Unternehmerinnen und Unternehmer sind sich nicht bewusst, dass ein Teil ihrer Belegschaft Defizite in grundlegenden Bildungsbereichen hat. Die Betroffenen versuchen oft, ihre Schwächen zu verbergen, da die Scham groß ist. Ein Problem: „Mangelnde Grund­bildung am Arbeitsplatz kann nicht nur die Sicherheit beeinträchtigen, sondern auch teure Fehler verursachen“, erklärt Professorin Ilka Koppel von der Pädagogischen Hochschule Weingarten bei Ravensburg.

„Wir haben ermittelt, dass aufgrund mangelnder Kommuni­kationsfähigkeit Fehler entstehen können, die eine Wirkungskette in Gang setzen. Je nach Szenario kann das ein Unternehmen auch mal 50.000 Euro kosten“, erklärt sie.

Im Forschungsprojekt „Alpha ­Invest“ der Hochschule haben ­Koppel und ihr Team in Zusammen­arbeit mit dem Projekt „ABConnect“ der Technischen Akademie für berufliche Bildung in Schwäbisch Gmünd die Kosten fehlender Grundbildung und den Mehrwert von Investitionen in entsprechende Weiterbildungen untersucht.

„Fehlende Grundkompetenzen können die fachgerechte Ausübung von Tätigkeiten erschweren und sich sowohl für das Unternehmen als auch für die Mitarbeitenden negativ auswirken“, sagt Koppel und fügt hinzu: „Dadurch können dem Unternehmen höhere Kosten, Zeitverzögerungen oder sogar Produktivitätsverluste entstehen.“ Das Ergebnis der Studie: „Selbst wenn man konservativ rechnet, kann man sagen, dass für jeden investierten Euro mehr als ein Euro zurückkommt.“

In der heutigen Arbeitswelt, in der die ­Anforderungen durch den technologischen Fortschritt stetig steigen, sind Lesen und ­Schreiben unerlässlich. Automatisierung und Digitalisierung erfordern immer komplexere Aufgaben und stärkere sozial-kommunikative Fähigkeiten. „Die Bildungsarmut in Deutschland nimmt zu, wie die Ergebnisse der PISA- oder IGLU-Studien zeigen“, warnt Koppel. Es lohnt sich also für Firmen, genau hinzuschauen, ob Grundbildung bei Mitarbeitenden fehlt.

Anzeichen für fehlende Grundbildung

Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, sind oft sehr gut darin, das zu ver­bergen. Grundbildungsbedarf lässt sich meist nur an subtilen Anzeichen erkennen. „Oft fällt es erst auf, wenn Fehler passieren“, sagt Isabel Vahlhaus. Sie leitet am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln das Projekt „AlphaGrund“, das Weiterbildungsangebote für Beschäftigte mit Grundbildungsbedarf entwickelt.

Oft meiden Betroffene neue oder unsichere Situationen, die von den gewohnten Abläufen abweichen, und melden sich krank, wenn ­neue Aufgaben oder Einsätze an unbekannten Orten anstehen. Ebenso haben sie Probleme, sich an Veränderungen in Arbeitsprozessen anzupassen, etwa wenn neue Maschinen eingeführt werden.

Sie lehnen häufig Angebote zur ­Weiterbildung und sogar attraktive Karriere-schritte ab. Schriftliche Unterlagen oder Nachweise werden verspätet oder gar nicht ab­gegeben. Im Alltag bitten sie bei einfachen Aufgaben Kolleginnen oder Kollegen um Hilfe. Es kommt vor, dass sie Texte wie Anleitungen falsch oder gar nicht verstehen.

Zudem können motorische Probleme beim Schreiben auftreten; die Handschrift wirkt ungewöhnlich oder unleserlich. Häufig sind Stundenprotokolle fehlerhaft, und Termine werden falsch notiert. Schriftlich erfolgte Einladungen oder Anweisungen werden ignoriert oder nur verzögert befolgt. Manche Mitarbeitende weichen mit unterschiedlichen Erklärungen aus, wenn sie gebeten werden, eine Anweisung zu lesen oder ein Formular auszufüllen, etwa mit Aussagen, wie „Ich habe meine Brille vergessen, fülle alles zu Hause aus“ oder „Die Schrift ist zu klein, das kann ich so nicht lesen“.

Haben Sie das Gefühl, dass es in Ihrer Firma Anzeichen für fehlende Grundbildung gibt? Dann sollten Sie aktiv werden. Das Projekt ­„AlphaGrund“ bietet einen praktischen Leit­faden in fünf Schritten, um die Grundbildung in Unternehmen effektiv zu verbessern. Diese Schritte sollten Sie bei der Entwicklung von Grundbildungsschulungen berücksichtigen. Wer bisher keine Erfahrung in dem Bereich hat, kann sich von Bildungsanbietern unterstützen lassen.

Schritt 1: Bedarf analysieren

Beginnen Sie mit einer Bestandsaufnahme, um festzustellen, welche Qualifikationen an ­welchen Arbeitsplätzen fehlen und was Sie ­verbessern könnten. Diese Leitfragen können dabei helfen:

  • Wie sehen die typischen Arbeitsschritte an den einzelnen Arbeitsplätzen aus?
  • Welche Anforderungen werden an den ­Arbeitsplatz gestellt?
  • Mit welchen anderen Bereichen im Unternehmen ist der Arbeitsplatz verknüpft?
  • Mit welchen Personen im Team wird wie ­zusammengearbeitet?
  • Welche Informationen sind für die Erledigung der Aufgaben nötig?
  • Welche sprachlichen Kompetenzen und ­Fertigkeiten kommen zum Einsatz?
  • Wo treten Schwierigkeiten auf?
  • Was sollten die betroffenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen besser können?

Schritt 2: Ziele festlegen

Nachdem Sie den Bedarf ermittelt haben, ­legen Sie konkrete Ziele für Ihre Grundbildungs­maßnahmen fest. Bestimmen Sie, welche Fähigkeiten im Team verbessert werden sollen.

So kann es zum Beispiel notwendig sein, dass die Mitarbeitenden lernen, Sicherheits- und Hygienevorschriften oder Arbeitsanweisungen besser zu verstehen, verschiedene ­Protokolle ­verständlich und fehlerfrei zu ­formulieren oder ihre IT-Grundkenntnisse zu verbessern. Setzen Sie auf jeden Fall Prioritäten. Nicht alle Defizite können sofort behoben werden, daher ist es sinnvoll, die wichtigsten zuerst anzugehen.

Schritt 3: Ressourcen planen

Beurteilen Sie die verfügbaren Ressourcen, die für die Umsetzung Ihrer Bildungsinitiative ­erforderlich sind. Planen Sie den Zeit-, Kosten- und Personalaufwand. Es gibt zahlreiche ­Förderprogramme für Grundbildungsprojekte. Das Bundesministerium für Bildung und ­Forschung (BMBF) fördert im Rahmen der ­„Alpha-Dekade“ (2016 – 2026) Projekte der ­arbeitsorientierten Alphabetisierung und Grundbildung. Dazu gehören die Projekte ­„AlphaGrund“ und „ABConnect“, aber auch „BasisKomNet“ des Bundesarbeitskreises Arbeit und Leben in Wuppertal, die Weiterbildungsangebote für Unternehmen entwickeln.

Diese für Firmen erst einmal kostenlosen ­Angebote haben in der Regel einen Umfang von 20 bis 50 Stunden. Das Unternehmen stellt in der Regel die Räume und gegebenenfalls die Beschäftigten frei. „Das ist ein begrenzter ­Umfang. Aber für den Einstieg und um die ­Beschäftigten erst einmal zu erreichen, ist das bereits effektiv“, sagt Vahlhaus.

Ebenfalls hilfreich ist die Benennung einer Vertrauensperson im Unternehmen. Laut Leo-Studie kennen 28 Prozent der Befragten Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten im Arbeitsumfeld, aber nur 37 Prozent sprechen offen darüber. Eine Vertrauensperson kann Hemmschwellen abbauen, unterstützen und die Vorteile von Weiterbildungen vermitteln.

Diese Vertrauensperson kann auch über ­Weiterbildungsangebote und Unterstützungsmöglichkeiten außerhalb des Betriebes informieren. Einige Mitarbeitende bevorzugen möglicherweise eine externe Schulung, um in einem neutralen Umfeld zu lernen. Einen Überblick über Lern- und Unterstützungsangebote in der Nähe, zum Beispiel an Volkshochschulen, bietet das Alfa-Telefon. Kostenlos und anonym erreichbar unter: 0800/53 33 44 55.

Schritt 4: Maßnahmen umsetzen

Entwickeln Sie einen Plan für die Einführung der Grundbildungsprogramme. Es ist wichtig, dass alle Schlüsselpersonen im Betrieb über die Bedeutung der Grundbildung informiert sind. Sensibilisieren Sie die Führungskräfte für die Notwendigkeit dieser Initiative, um eine breite Unterstützung zu gewährleisten.

Legen Sie fest, wer im Unternehmen für die Planung und Durchführung der Maßnahmen verantwortlich ist. Auch wenn professionelle Schulungsanbieter Unterstützung bieten, sollte jemand im Unternehmen zum Beispiel den Raum organisieren oder Tee und Kaffee bereitstellen. Planen Sie die Schulung so, dass der Betriebsablauf möglichst wenig gestört wird. Vor allem aber so, dass Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gern daran teilnehmen. Führen Sie die Schulungen flexibel während oder außerhalb der Arbeitszeit durch, je nachdem, was besser in den Arbeitsrhythmus passt.

Sprechen Sie die Betroffenen frühzeitig und sensibel an. „Viele haben schlechte Erfahrungen in der Schule gemacht“, sagt Vahlhaus. Daher sei nicht jeder von Anhieb begeistert von einer Weiterbildung.

Schritt 5: Erfolge messen

Nach der Durchführung der Weiterbildung ist es entscheidend, deren Erfolg zu bewerten. Überwachen Sie die Auswirkungen auf die Fehlerquoten, Produktivität und Zufriedenheit unter den Mitarbeitenden, um Bereiche für ­zukünftige Verbesserungen zu identifizieren.

Bitten Sie auch die Teilnehmenden um ein Feedback, und stellen Sie die Ergebnisse der Bildungsmaßnahmen in der Firma vor, um die Sichtbarkeit zu erhöhen. Dies fördert nicht nur die Anerkennung der Lernerfolge, sondern motiviert auch andere Teammitglieder, an ­zukünftigen Schulungen teilzunehmen. „Die Beschäftigten, die selber an diesen Kursen teil­genommen haben, sind oft sehr stolz und erzählen häufig begeistert ihren Kolleginnen und Kollegen davon“, berichtet Isabel Vahlhaus.

Und so kann aus anfänglichem Schamgefühl durchaus Stolz auf das Erreichte erwachsen. Ein Boost für Selbstbewusstsein, Arbeitsmoral und das Teamgefühl.