Statistikpflichten
Gefangen im Pflichtendickicht? Wer sich vor Statistikmeldungen drücken darf

Müssen Sie auch Daten ans Statistische Landesamt oder Bundesamt melden? Was Ihnen droht, wenn Sie der Pflicht nicht nachkommen – und wann Sie sich davon befreien lassen können.

29. Mai 2024, 12:43 Uhr, von Verena Bast, Wirtschaftsredakteurin

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Statistikpflichten
Bei dem Dickicht aus Statistikpflichten ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten.
© Elisabeth Bender / iStock / Getty Images Plus

Eigentlich hat Rolf Lamers diesen Herbst einen Grund, sich zu freuen. Denn dann dürfte sein Unternehmen, die Steidle GmbH aus Leverkusen, ­einen Meilenstein in der Firmengeschichte ­erreicht haben. Wenn alles wie geplant läuft, exportiert der Hersteller von Sprühgeräten mit seinen elf Mitarbeitern dann erstmals Waren im Wert von mehr als 500 000 Euro in Länder der Europäischen Union.

Doch in die Freude mischen sich Bedenken, zuweilen auch Ratlosigkeit. Denn von diesem Moment an muss Steidle eine für das Unternehmen neue Bürokratiepflicht erfüllen: Es muss Daten für die sogenannte Intrahandelsstatistik melden. Die Statistik besagt, wie viel deutsche Unternehmen in andere EU-Länder exportieren. Lamers Mitarbeiter müssen von diesem Monat an nicht nur – wie bisher – für jedes Land, in das das Unternehmen Waren ­exportiert, den Warenumsatz melden, sondern beispielsweise auch die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Kunden und das Gewicht der Waren. „Wir kombinieren über 2500 Teile zu individuell konfigurierbaren Sprühgeräten, wie soll man da das Gewicht erfassen?“, fragt der geschäftsführende Gesellschafter.

16 Prozent mehr Informationspflichten

Insgesamt 158 Statistiken erstellen das Bundesamt und die Landesämter für Statistik, für die Unternehmen Daten melden müssen oder als Teil einer Stichprobe dazu verpflichtet werden können. Manche Daten müssen Firmen monatlich abgeben, andere vierteljährlich oder jährlich. Obwohl es sich die Bundesregierung auf die Fahne geschrieben hat, Bürokratie ­abzubauen, ist die Zahl der „Informationspflichten“, zu denen auch die Statistikmeldungen zählen, in den vergangenen zehn Jahren um 16 Prozent gestiegen. Von Informationspflichten spricht das Statistische Bundesamt, wenn Unternehmen aufgrund bundesrecht­licher Gesetze oder Verordnungen Daten oder sonstige Informationen beschaffen, übermitteln oder verfügbar halten müssen.

Statistikmeldungen machen einen geringen Anteil an den Informationspflichten aus, sind aber laut Studien des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) und des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) eines der größten Ärgernisse im Hinblick auf die Bürokratie. „Manche Statistiken sind äußerst kompliziert und aufwendig“, sagt Benjamin Baykal, der sich für den DIHK für einen Abbau der ­Bürokratie einsetzt. „Gerade für kleine Unternehmen können sie ein großes Problem sein, weil sie meist nicht die Kapazitäten haben, ­regelmäßig extra Personal dafür abzustellen.“

Mitunter sind die Meldungen so schwierig, dass sie selbst gestandene Geschäftsführer zur Verzweiflung bringen. „Wir hatten auch schon weinende Unternehmer und Unternehmerinnen am Telefon, die nicht mehr weiterwussten, weil sie die Zahlen einfach nicht auftreiben konnten in ihrer Firma“, erzählt Claus Paal, Präsident der IHK Region Stuttgart. Zumal die Zahlen häufig schnell gemeldet werden müssen, bei Monatsstatistiken beispielsweise 10 bis 20 Tage nach Ende des ­Berichtsmonats.

Welche Bußgelder ­säumigen ­Unternehmen drohen

Kommt ein Unternehmen dem nicht nach, drohen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes Bußgelder zwischen 120 und 400 Euro. Bei mehrfachen Verstößen kann das Bußgeld auch höher ausfallen.

Camilla Dallmann muss derzeit sogar für das gesamte Jahr 2023 Daten für die Intrahandelsstatistik nachmelden. „Ein wahnsinniger Aufwand für uns, dafür, dass es nachher nur in einer Statistik landet!“, sagt die Geschäftsführerin von Metaline Surface Protection in Hildrizhausen bei Stuttgart. Dallmann, deren Firma Beschichtungswerkstoffe anbietet, erzählt, dass sie nun einen Mitarbeiter für einen halben Tag pro Monat dafür abstellen müsse, die Daten zu melden.

„Wenn wir unsere Leute mit Sachen beschäftigen müssen, die kein Geld bringen, ist das sehr ärgerlich“, sagt sie. Von den Statistiken ­habe sie nichts. „Die Zahlen werden so hoch aggregiert. Was bringt es mir zu wissen, wie viel deutsche Unternehmen insgesamt beispielsweise nach Italien exportieren?“

Wie die Politik Unternehmen entlasten will

Bürokratie erfüllt per se wichtige wirtschaftliche Funktionen: Sie trägt dazu bei, Rechts- und Planungssicherheit herzustellen. Und Statistiken können eine Basis für politische Entscheidungen sein, beispielsweise über Fördermittel. Doch auch die Politik hat erkannt, dass sich ­etwas ändern muss. Im März beschloss das Bundeskabinett das vierte Bürokratieentlastungsgesetz, das unter anderem kürzere Aufbewahrungsfristen von Rechnungen und an­deren Belegen vorsieht. Das Gesetz soll die Wirtschaft um rund eine Milliarde Euro ­ent­lasten. „Wir müssen nicht nur Bürokratie ­abbauen, sondern auch aufhören, neue Bürokratie aufzubauen“, sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) jüngst.

Seit 2015 gibt es die „One in, one out“-Regel. Sie besagt, dass für jedes neue Gesetz eine alte Regelung abgeschafft werden muss. Diese Vorgabe gilt jedoch nur für Gesetze des Bundes. Wenn man sich einschlägige EU-Statistiken ­anschaue, seien wir mittlerweile bei „Four in, one out“ angekommen, sagt IHK-Präsident Paal. „Die Unternehmen können nicht mehr, die ­Bürokratie hemmt ihre Wettbewerbsfähigkeit massiv. Sie erwarten den großen Wurf – und keine minimalinvasiven Einzelschritte mehr.“

Außerdem werden die Abfragen der Statis­tik­ämter mitunter umfangreicher. Ein Unternehmer habe Paal beispielsweise erzählt, dass er neulich melden musste, wie viel Stahl in ­einer ganz bestimmten Stärke er in die EU ­geliefert hat. „Natürlich steckt das irgendwo in den Büchern, aber er wird viele Tage benötigt haben, um das rauszusuchen“, sagt Paal und ergänzt: „Welchen Sinn und Zweck hat solch eine Abfrage?“ Das sei selbst ihm nicht klar.

Ein weiteres Problem: Gesetzestexte sind ­häufig nur schwer verständlich. „In einem Rechtsstaat sollte es gängige Praxis sein, dass der Gesetzgeber Regelungen erlässt, die von Unternehmern und Bürgern inhaltlich nachvollzogen und mit vertretbarem Aufwand ­vollständig umgesetzt werden können“, sagt Annette Icks vom Institut für Mittelstands­forschung (IfM) in Bonn. Die ­Praxis sieht anders aus, mit drastischen Folgen: Jedes vierte Unternehmen setze die bürokratischen Erfordernisse nicht vollumfänglich um, betreibe ­also einen „autonomen Büro­kratieabbau“.

Wer sich von Statistik­meldungen befreien lassen kann

Von den Statistikpflichten können sich nur ­Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten befreien lassen – und auch nur, wenn das Bundesamt für Statistik sie für mehr als drei Erhebungen per Stichprobe herangezogen hat.

Aber was würde Unternehmen – neben einer anderen Grundhaltung – helfen? „Wir brauchen beispielsweise eine Anhebung von Schwellenwerten, ab denen bestimmte Regelungen gelten“, sagt Paal. „Das würde schnell, einfach und massiv den Mittelstand entlasten.“

Immerhin: Bei den Statistikpflichten hat sich bereits etwas verbessert, beispielsweise bei der Verdienststatistik, bei der bundesweit rund 58 000 Betriebe meldepflichtig sind. Sie wurde so geändert, dass Unternehmen die Daten heute mit nur wenigen Klicks melden können. „Das wäre auch bei ­vielen anderen Statistiken möglich und wünschenswert“, sagt DIHK-Referatsleiter Benjamin Baykal.

Rolf Lamers jedenfalls bereitet sich schon darauf vor, alle Daten für die Intrahandels­statistik an die Behörde abzugeben. Bis zum Herbst werden seine Mitarbeitenden noch viele Stunden damit beschäftigt sein, die Gewichte seiner Sprühgeräte zusammenzutragen.